„ … nicht amtsmüde, nicht demotiviert …“

Zum Rücktrittsangebot von Kardinal Marx als Erzbischof von München und Freising

Was am heutigen 4. Juni in der Medienlandschaft wie ein Paukenschlag heftige Resonanzen auslöste, war nach seinem Bekunden bereits in der Fastenzeit und an Ostern zum Entschluss gereift. Am 21. Mai, so Kardinal Marx in seiner Pressekonferenz, habe er Papst Franziskus dann in Rom aufgesucht und ihm die schriftliche Demissionsbitte vorgelesen. Per Mail habe der Papst ihn jetzt wissen lassen, dass das Schreiben veröffentlicht werden könne, Kardinal Marx jedoch bis zu einer endgültigen päpstlichen Entscheidung im Amt bleiben solle.

Mit dem aufsehenerregenden Entschluss des angebotenen Amtsverzichts überraschte der Münchner Oberhirte in relativ kurzem Abstand zum zweiten Mal, nachdem er bereits zuvor (2020) unerwartet den Vorsitz in der Deutschen Bischofskonferenz zur Verfügung gestellt hatte. Den Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter nahm man dem damals 66-Jährigen nicht wirklich ab.

Dass sich jetzt Stimmen zu Wort melden, die Reinhard Marx für seinen aufsehenerregenden Schritt höchsten Respekt bekunden, dürfte in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt sein. All das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der in den engsten Beraterkreis (K9) des Papstes berufene Hoffnungsträger aus München bei weitem nicht all das realisieren konnte, was er sich als Anwalt einer Reform „in capite et membris“ vorgenommen hatte. So gesehen ist die im Münchner Bischofspalais mit Nachdruck vorgetragene Beteuerung „ich bin nicht amtsmüde, nicht demotiviert“ von hinterfragbarer Aussagekraft.

Nicht nur in Rom, sondern auch im Kardinalskollegium der Weltkirche hatte der Münchner Oberhirte nicht nur Freunde, da er zumindest während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz eine Regionalkirche vertrat, deren synodale Schritte in anderen Ländern mit unverhohlener Skepsis beäugt werden.

Das alles hat, wie der Kardinal es jetzt begründet, sehr wohl mit dem Missbrauchsskandal zu tun, bei weitem aber nicht nur. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie divergierend die katholische Kirche in Deutschland ist, dann kann man dies aus den erkennbar dissonanten Reaktionen auf das jetzige Rücktrittsangebot ablesen.

Reinhard Marx betont, dass es sich bei seinem jetzt publizierten Schritt um eine im Gebet geläuterte ganz persönliche Gewissensentscheidung handle. Er spricht dabei von „möglichen“ persönlichen Fehlern, betont aber vor allem seine „institutionelle Verantwortung“ im System. Dabei beklagt er zugleich „dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“. Selbstverständlich hat er damit bischöfliche Mitbrüder im Blick, allen voran vermutlich den Kardinalskollegen in Köln.

Wenn es freilich seiner Meinung nach so wäre, dass es diese kollektive, gleichsam automatische Mitverantwortung der kirchlichen Amtsträger gibt, müssten – entsprechende Forderungen wurden bereits laut – konsequenterweise viele oder gar alle Ordinarien, seinem Beispiel folgend, ihren Hut nehmen: weil sie allein schon durch die Übernahme der Leitung ihrer Bistümer in die fatale Unheilsgeschichte verwoben sind, die mit den Begriffen Machtmissbrauch, Vertuschung, klerikale Männerbünde und Frauenfeindlichkeit etikettiert wird. Wer im System der katholischen Kirche unter den heutigen Bedingungen eine Leitungsfunktion übernimmt, ist inzwischen auch schon für viele Kirchenmitglieder eo ipso verdächtig und hätte das Amt am besten nie angenommen. Eine derartige radikale Selbstläuterung dürfte die real existierende katholische Kirche in Deutschland in ihrer organisatorischen Verfasstheit schwerlich überleben.

Cui bono? Auch wenn man an der persönlichen Lauterkeit des Entschlusses von Reinhard Marx keinen Zweifel hegen sollte, wird die Frage bestehen bleiben, ob der spektakuläre Schritt des Machtverzichts („vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt … für neue Anfänge“) seine intendierte Wirkung letztlich nicht doch verfehlen wird. Der Beifall des Publikums ist volatil, und der vermutlich größere Teil der bundesdeutschen Gesellschaft wird einer längst verurteilten katholischen „Missbrauchs-Kirche“ keine Träne nachweinen.

Die Kirchengeschichte lehrt indes, dass solche säkularisierenden Entmachtungen auch Chancen beinhalten. Wenn Reinhard Marx in zahlreichen Medien jetzt falsch zitiert wird, dass „die Kirche“ an einem toten Punkt angekommen sei, ist das von ihm de facto gebrauchte „Wir ([haben versagt]“ beileibe nicht mit „der Kirche“ in toto gleichzusetzen. Professioneller Journalismus beherrscht diese Differenzierung.

4. Juni 2021
Msgr. Wolfgang Sauer

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