Eine Zeit zum Klagen

(Prediger 3,4)

Im Hauptportal des Freiburger Münsters ist das Panorama des Jesuslebens abgebildet, zentriert in der Szene des Gekreuzigten. Zu seiner Linken sind jene zu sehen, die nach damaliger Vorstellung der Verdammnis überantwortet sind. Bei genauerem Hinsehen erkennt man in dieser Menschengruppe auch eine Person, die eine goldene Mitra trägt. Ihr Glanz schützt nicht: unsere Vorfahren und die Künstler der damaligen Zeit brauchten offenbar nicht darüber belehrt werden, dass auch hohe geistliche Würdenträger allein durch ihr Amt nicht bewahrt sind vor jenem endgültigen Gericht, mit dem der gekreuzigte Auferstandene das wirklich letzte Wort spricht, das jedem menschlichen Urteil entzogen ist.

In unseren Tagen bekommt jene Darstellung vom Endgericht eine bedrückende Aktualität. Die Kommentare zum Freiburger Missbrauchsbericht steigern sich in ein Fortissimo und bekunden eine Resonanz der Erschütterung und Fassungslosigkeit. Tatsächlich ist es unerhört und kaum vorstellbar, wie verschleiernder Umgang mit dem düsteren Phänomen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen gleichsam zur geläufigen Arbeitsroutine wurde und jenes zugleich fragwürdige und doch auch zerbrechliche System einer absolutistischen Ausübung von überantworteter oder selbstbestimmter Macht und Vollmacht hervorbrachte. Dass jegliche Kontrolle oder Mitsprache dadurch neutralisiert wurde, dass die amtliche Befugnis der Personalverantwortung mit dem seelsorgerlich garantierten Berufsgeheimnis verquickt wurde, ist fraglos ein unerhörter Exzess.

Auch nach den mit investigativer Gründlichkeit durchgeführten Untersuchungen und Analysen dürfte noch manches ans Licht kommen, was weiter dazu beiträgt, die gefährlichen Begleiterscheinungen einer falsch verstandenen Hierarchie aufzudecken. Episkopale Macht kann letztlich nur durch das aufrichtige Gewissen der Amtsträger selbst kontrolliert werden. Dazu braucht es die Bereitschaft, sich beraten und korrigieren zu lassen – es braucht eine mit der Weihe nicht automatisch einhergehende menschliche Größe und demütige Disziplin. Vielleicht ist es eine Konsequenz des derzeitigen Schreckens, dass neu begriffen wird, dass „Hierarchie“ die „Herrschaft des Heiligen“ meint und nicht die sakrosankte „Heiligkeit der Herrschenden“. Besonders auch jene, die bei ihrem Eintritt in den Priesterstand dem ordinierenden Bischof und auch seinen Nachfolgern „Ehrfurcht und Gehorsam“ versprechen, müssen sich darauf verlassen können, dass sie von ihrem Oberen ebenfalls Ehrfurcht erwarten dürfen: sprich eine lautere Amtsführung, die sie nicht zu ahnungslosen Mitgliedern einer miserablen „Täterorganisation“ macht, zu Opfern einer unkontrollierten Autorität.

Über allen im aktuellen Diskurs neu entwickelten oder wiederholt vorgetragenen Desideraten steht die beklemmende Prognose eines weltweit anerkannten Fachmanns, des Jesuiten Hans Zollner. Als Leiter des Institute of Anthropology der Gregoriana in Rom trifft er die desillusionierende Feststellung, dass der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein Phänomen sei, das es seit Beginn der Menschheitsgeschichte gibt, in manchen Kulturen sogar als selbstverständlich praktiziert oder toleriert. Selbst wenn, so der Kinderschutzexperte, alle Handlungen sexualisierter Gewalt identifiziert und „aufgearbeitet“ sein sollten, wird es weiterhin pädophile Übergriffe und Vergehen geben. „Der Mensch ist ein aggressives Tier!“, so das bestürzende Resümee seiner Expertise.

Vielleicht ist es diese in den Tiefen menschlicher Verhaltensstrukturen lauernde Gefahr, die zu einer kollektiven Abwehr und Ächtung pädophiler Kriminalität führt. Es braucht keine besondere psychologische Kenntnis, um den Sündenbock-Mechanismus zu identifizieren, den man – letztlich vergeblich – praktiziert, um sich vermeintlich selbst zu exkulpieren. Der Horror angesichts aufgedeckter Missetaten, jener der Täter und die derer, die sie verschweigen und unsichtbar machen wollen, korrespondiert mit einer tiefsitzenden Angst vor unkontrollierter Triebhaftigkeit in der je eigenen Existenz. Was man an anderen entsetzlich findet, kann ein Spiegelbild der Ablehnung seiner selbst sein. Die Menschheit sitzt im Boot einer Schicksalsgemeinschaft, die früher einmal mit dem Begriff des peccatum originale, der Ursünde beschrieben wurde: die fatale Freiheit, Böses zu tun.

Was soll also, so könnte man mit nachdenklicher Gelassenheit fragen, der Sturm der Entrüstung gegen jene, die man als die Ursache des Übels meint identifizieren zu können. Ist den über Jahre hinweg ignorierten Opfern sexuellen Missbrauchs dadurch geholfen, dass man neben ihren kriminell gewordenen Peinigern auch jene zur Rechenschaft zieht, die in einer Mischung von Ignoranz des pathologischen Befundes, von spirituell überhöhtem Schutz einer kirchlichen Makellosigkeit und von nicht reflektierter beziehungsweise eigenmächtiger Ausübung ihres Amts „gewaltet“ haben?

Um nicht missverstanden zu werden: nichts, aber auch gar nichts von geschehenem Unrecht darf bagatellisiert oder dem konsequenten Handeln einer rechtsstaatlichen Justiz entzogen werden! Aber ist es nicht so, dass nicht wenige von denen, die sich jahrelang in selbstherrlicher Weise ein intransparentes Handeln angeeignet und sich in ihrem Tun unkontrolliert selbst legitimiert haben, längst in den Trümmern ihrer vormaligen Handlungsmuster wiederfinden? Müssen sie noch den Mechanismen von Rache und Hass, von Schadenfreude und Verachtung überantwortet werden?

In der berechtigten und derzeit immer neu gestellten Frage „Wie soll es jetzt weitergehen?“ sollte bedacht werden, dass unversöhnliche Reaktionen letztlich auch dem schaden, der sich von ihnen leiten lässt. Wer Rache übt und Denkmäler einreißt, Bilder abhängt und Namen aus dem Gedächtnis der Gesellschaft entfernt, wird nur eine kurzfristige Genugtuung empfinden. Eine aufgeheizte Empörungskultur bringt in einer Krise wie der gegenwärtigen keine Lösung. Ist es nicht an der Zeit, sich in seinem Verhalten an jenen „systemischen“ Vorgaben zu orientieren, die unserer Kirche aus den Weisungen Jesu erwachsen, also sich gerade jetzt den Provokationen des Evangeliums, etwa den Seligpreisungen der Bergpredigt, zu stellen? Was bedeutet die Botschaft von Vergebung, Versöhnung in der derzeitigen Situation? So zu fragen ist keine Einladung zu naiver Entschuldigung. Nein, es gilt, ein Kriterium Jesu anzuwenden: die Unterscheidung von Sünder und Sünde, von Tat und Täter.

Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen Vergebung und Verharmlosung. Der Ernst der eingetretenen Situation erlaubt keinen Übergang zur Tagesordnung. Gefordert ist jede nur denkbare Anstrengung im Bereich der Kardinaltugenden: Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit. Eine Gemeinschaft, die solche zumutenden Haltungen aus dem Auge verlöre, würde ihre Identität noch weiter zerstören, als diese durch das beklagte Unrecht schon genug beschädigt oder verraten ist.

Entsetzt und fassungslos zu sein, ist verständlich. Aber es darf nicht die einzige – und letztlich hilflose – Emotion sein. Die „Frucht des Geistes Gottes“ (Gal. 5,22) hat verheißungsvollere Signaturen.

„Töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit“ (Prediger 3,3).

Freiburg, 29.04.2023