Beim Wort genommen

Papst Franziskus entlässt Kardinal Marx nicht aus der Verantwortung für sein Bistum München und Freising.

Zweifellos hat der römische Oberhirte das Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx genau gelesen. Er hatte dafür drei Wochen Zeit. Auch die Bekundung – anlässlich der Pressekonferenz am 4. Juni -, in der Reinhard Marx unterstrich, dass er weder amtsmüde noch demotiviert sei, dürfte in das jetzige, überraschend schnell auf den Weg gebrachte Antwortschreiben des Papstes eingeflossen sein.

„Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen.“, so schloss Kardinal Marx sein Demissionsgesuch vom 21. Mai. Nun erreicht ihn der Auftrag, genau dies in seinem angestammten Bistum zu tun.

Durch seinen angebotenen Rücktritt wollte der Münchner Erzbischof ein Zeichen seiner Verantwortung für die Institution und ein System setzen, das er an einem „toten Punkt“ angekommen sieht. Ein ehrenwertes Ansinnen, das in der Politik üblich ist, wenn auch nicht immer befolgt wird. Papst Franziskus betrachtet die Situation allerdings mit anderen Augen und warnt vor den „Ideologen der Reform“, die nicht ihre eigene Existenz riskieren. Er erinnert seinen „Bruder“ in München, sich nicht auf Soziologismen oder Psychologismen zu verlassen oder von der Meinung der Medien abhängig zu machen. Der dem Jesuitenorden angehörende Papst spricht von der dringlichen Aufgabe, die Realität so anzunehmen, wie sie ist, und dabei die (ignatianische) Kraft der Unterscheidung walten zu lassen. In all dem wird nichts schön geredet: die aus den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs hervorgegangene Krise nennt Franziskus eine Katastrophe und sieht dabei sich selbst und alle Bischöfe sowie Priester weltweit in der Pflicht, die Konsequenzen am eigenen Leib zu ertragen. Fernab von würdevollen päpstlichen Deklarationen spricht Franziskus unverblümten Klartext, benennt die „Skelette im Schrank“ (gleichbedeutend mit den sprichwörtlichen „Leichen im Keller“). „Wenn man nicht sein eigenes Fleisch auf den Grill legt, nützt das überhaupt nichts“. Solche deftigen Worte können fast nur von einem im Land der Gauchos sozialisierten Menschen kommen, wie überhaupt das ganze päpstliche Schreiben erkennen lässt, dass es unmittelbar aus der Feder von Franziskus stammen muss: es enthält grammatikalische Sonderheiten, die nur das argentinische Spanisch kennt („decís“, „vos“ usw.). Der Brief des Papstes lässt zudem eine ganz besondere Nähe, ja brüderliche Zuneigung, erkennen und scheut sich nicht zu erwähnen, dass der Bischof von Rom seinen Münchner Kollegen mag („hermano tuyo que te quiere“). Hier spricht, so spürt man, ein Geistlicher, der bereits in jungen Jahren eine Jesuitenprovinz geleitet hat und weiß, was es heißt, in seiner Verantwortung auch schwere Fehler begangen zu haben. In der Binnensprache kirchlicher Spiritualität würde man den Text des Papstes mit dem literarischen Format einer „Exhorte“ vergleichen können: empathisch und wertschätzend, zugleich von hohem geistlichen Anspruch und einer mahnenden Erinnerung, einer übernommenen Verantwortung nicht davonzulaufen.

Es könnte sein, dass die spirituell-theologische Hermeneutik des Papstbriefes überlesen oder als frommes Gerede abqualifiziert wird – erste öffentliche Reaktionen lassen darauf schließen. Der eigentliche Adressat freilich dürfte die „correctio fraterna“ aus dem Mund des Papstes sehr wohl verstehen. Und er wird noch mehr als bisher spüren, dass er weiterhin zwischen den Stühlen sitzt: einer Situation, der er durch den Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden und dem Angebot des erzbischöflichen Amtsverzichts doch vermutlich entgehen wollte. Einerseits als „starke Stimme der deutschen Reform“ bejubelt, andererseits, in der Loyalität eines Kardinals, der Sichtweise des Papstes verpflichtet, der nicht unbedingt das im Sinn hat, was nördlich der Alpen unter Reform verstanden wird. Jesus, so der Papst, habe die Reform mit seinem Leben, mit seiner Geschichte und mit seiner Hingabe am Kreuz unter Beweis gestellt. „Y este es el camino, el que vos mismo, querido hermano, asumís al presentar la renuncia. – Dies. lieber Bruder, ist der Weg, den Du Dir selbst mit Deinem Angebot des Amtsverzichts zu Eigen gemacht hast.“

Papst Franziskus, der seit Beginn seines Pontifikats immer wieder seine eigene Begrenztheit betont („Soy un pecador“) erinnert Reinhard Marx an die Schlüsselbegegnung zwischen Petrus und Jesus. Ausgerechnet jener Feigling Petrus, der sich vor seinem Herrn als Sünder bekennt („Geh weg von mir!“), erhält den Auftrag „Weide meine Schafe“ (vgl. Lk. 5, 8-10; Joh. 21, 17).

Christoph Klingan, der Münchner Generalvikar, hatte nach der Veröffentlichung des Rücktrittsangebots am 4. Juni das Erzbistum München und Freising zum Gebet für seinen Bischof aufgerufen. Diese Fürbitte ist nun vermutlich noch wichtiger als vor einer Woche.

Wolfgang Sauer
10. Juni 2021

„ … nicht amtsmüde, nicht demotiviert …“

Zum Rücktrittsangebot von Kardinal Marx als Erzbischof von München und Freising

Was am heutigen 4. Juni in der Medienlandschaft wie ein Paukenschlag heftige Resonanzen auslöste, war nach seinem Bekunden bereits in der Fastenzeit und an Ostern zum Entschluss gereift. Am 21. Mai, so Kardinal Marx in seiner Pressekonferenz, habe er Papst Franziskus dann in Rom aufgesucht und ihm die schriftliche Demissionsbitte vorgelesen. Per Mail habe der Papst ihn jetzt wissen lassen, dass das Schreiben veröffentlicht werden könne, Kardinal Marx jedoch bis zu einer endgültigen päpstlichen Entscheidung im Amt bleiben solle.

Mit dem aufsehenerregenden Entschluss des angebotenen Amtsverzichts überraschte der Münchner Oberhirte in relativ kurzem Abstand zum zweiten Mal, nachdem er bereits zuvor (2020) unerwartet den Vorsitz in der Deutschen Bischofskonferenz zur Verfügung gestellt hatte. Den Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter nahm man dem damals 66-Jährigen nicht wirklich ab.

Dass sich jetzt Stimmen zu Wort melden, die Reinhard Marx für seinen aufsehenerregenden Schritt höchsten Respekt bekunden, dürfte in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt sein. All das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der in den engsten Beraterkreis (K9) des Papstes berufene Hoffnungsträger aus München bei weitem nicht all das realisieren konnte, was er sich als Anwalt einer Reform „in capite et membris“ vorgenommen hatte. So gesehen ist die im Münchner Bischofspalais mit Nachdruck vorgetragene Beteuerung „ich bin nicht amtsmüde, nicht demotiviert“ von hinterfragbarer Aussagekraft.

Nicht nur in Rom, sondern auch im Kardinalskollegium der Weltkirche hatte der Münchner Oberhirte nicht nur Freunde, da er zumindest während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz eine Regionalkirche vertrat, deren synodale Schritte in anderen Ländern mit unverhohlener Skepsis beäugt werden.

Das alles hat, wie der Kardinal es jetzt begründet, sehr wohl mit dem Missbrauchsskandal zu tun, bei weitem aber nicht nur. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie divergierend die katholische Kirche in Deutschland ist, dann kann man dies aus den erkennbar dissonanten Reaktionen auf das jetzige Rücktrittsangebot ablesen.

Reinhard Marx betont, dass es sich bei seinem jetzt publizierten Schritt um eine im Gebet geläuterte ganz persönliche Gewissensentscheidung handle. Er spricht dabei von „möglichen“ persönlichen Fehlern, betont aber vor allem seine „institutionelle Verantwortung“ im System. Dabei beklagt er zugleich „dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“. Selbstverständlich hat er damit bischöfliche Mitbrüder im Blick, allen voran vermutlich den Kardinalskollegen in Köln.

Wenn es freilich seiner Meinung nach so wäre, dass es diese kollektive, gleichsam automatische Mitverantwortung der kirchlichen Amtsträger gibt, müssten – entsprechende Forderungen wurden bereits laut – konsequenterweise viele oder gar alle Ordinarien, seinem Beispiel folgend, ihren Hut nehmen: weil sie allein schon durch die Übernahme der Leitung ihrer Bistümer in die fatale Unheilsgeschichte verwoben sind, die mit den Begriffen Machtmissbrauch, Vertuschung, klerikale Männerbünde und Frauenfeindlichkeit etikettiert wird. Wer im System der katholischen Kirche unter den heutigen Bedingungen eine Leitungsfunktion übernimmt, ist inzwischen auch schon für viele Kirchenmitglieder eo ipso verdächtig und hätte das Amt am besten nie angenommen. Eine derartige radikale Selbstläuterung dürfte die real existierende katholische Kirche in Deutschland in ihrer organisatorischen Verfasstheit schwerlich überleben.

Cui bono? Auch wenn man an der persönlichen Lauterkeit des Entschlusses von Reinhard Marx keinen Zweifel hegen sollte, wird die Frage bestehen bleiben, ob der spektakuläre Schritt des Machtverzichts („vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt … für neue Anfänge“) seine intendierte Wirkung letztlich nicht doch verfehlen wird. Der Beifall des Publikums ist volatil, und der vermutlich größere Teil der bundesdeutschen Gesellschaft wird einer längst verurteilten katholischen „Missbrauchs-Kirche“ keine Träne nachweinen.

Die Kirchengeschichte lehrt indes, dass solche säkularisierenden Entmachtungen auch Chancen beinhalten. Wenn Reinhard Marx in zahlreichen Medien jetzt falsch zitiert wird, dass „die Kirche“ an einem toten Punkt angekommen sei, ist das von ihm de facto gebrauchte „Wir ([haben versagt]“ beileibe nicht mit „der Kirche“ in toto gleichzusetzen. Professioneller Journalismus beherrscht diese Differenzierung.

4. Juni 2021
Msgr. Wolfgang Sauer