Wenn sich einmal die Nebel des Schocks und der Schuldzuweisungen gelichtet haben werden, mag deutlicher hervortreten, dass angesichts z.T. diametraler Gegensätze der politischen Optionen die gewählte Vorgehensweise für die Sondierungsgespräche von Anfang an nicht zielführend sein konnte. Um die mit dem Kürzel „Jamaica“ belegte Quadratur des Kreises anzugehen, bedurfte es nicht hundertköpfiger Delegationen, sondern einer anfänglichen Grundsatzklärung auf höchster Ebene und im kleinen Kreis. Die Letztverantwortlichkeit für die dann trotzdem favorisierte Methode ist bekannt.
Das Wahlvolk wünschte sich nach dem Resultat des 24. September – umfragebelegt! – eine handlungsfähige Regierung. Über die Tatsache, dass die Nation in wesentlichen Fragen mittlerweile bis zur Zerreißprobe gespalten ist, machte man sich wenig Gedanken. Vor dem Hintergrund der von Woche zu Woche steigenden Erwartungen, dass die Sondierungen doch endlich das Wunder vollbringen würden, flüchteten sich manche Protagonisten – hoch lebe die Verhandlungsdiskretion! – bis zuletzt in allerlei kühne öffentliche Behauptungen, man stehe schon ganz nahe vor dem erfolgreichen Abschluss der Sondierungen. Irgendwann wird – investigativ – ans Licht kommen, was in den Wochen nach der Wahl wirklich geschah, und ob etwa der Schwarze Peter der geplatzten Einigung tatsächlich ausschließlich bei den Freien Demokraten zu suchen ist. Lindners Formulierung „Besser nicht regieren als falsch regieren“ könnte ja auch so interpretiert werden, dass er einer auf „Falschheit“ (im Sinn von Misstrauen und politischer Lebenslüge) beruhenden Koalition keine Chance gab. Er benutzte den Begriff „falsch regieren“ und nicht etwa „schlecht regieren“.
Die geradezu obsessiv wiederholte Interpretation des letzten Wahlausgangs, der – in der Schulz’schen Diktion – eine „krachende Niederlage“ und somit definitive Abwahl der Großen Koalition offenbart hätte, gehört in die Kategorie des tumben Trotzes. Die älteste demokratische Partei auf deutschem Boden sollte sich (auch personell, 100% hin oder her!) neu aufstellen und sich auf die Millionen von Stimmen besinnen, die ihr bestimmt nicht zum Schmollen in der Opposition anvertraut wurden. Wer eine Auszeit und Heilkur braucht, möge sie sich gönnen, aber bitte nicht seine Partei in Geiselhaft nehmen.
Es wurde behauptet, man sei geradezu „patriotisch“ bis an die Schmerzgrenze der Kompromissbereitschaft gegangen – und darüber hinaus! Dieser – gehen wir einmal von der positiven Annahme aus – ehrlich gemeinten Bereitschaft stehen zwei hohe Hürden im Weg: zum einen der Wille zur Regierungsmacht, die neben dem Prestigezuwachs ja auch lukrative Implikationen mit sich bringt, und zum anderen das geradezu magische Starren auf den Willen der so genannten Basis. Hier scheint sich ein Grundproblem in der demokratischen Entwicklung anzudeuten, das uns im großen Stil auch von Trump vorgemacht wird. Sind unsere Politiker wirklich nur gewählt, um ihre Wahlklientel zu befriedigen und nach Manier des Musterschülers hinter sämtliche Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme artig ihre Häkchen zu setzen? Ein imperatives Mandat ist im bundesdeutschen Parlamentarismus ausdrücklich nicht vorhersehen.
Natürlich braucht jede Partei ihr genuines Profil. Sie braucht aber auch jenes Vertrauen ihrer Wählerinnen und Wähler, dass sie sich in der jeweils geforderten Situation – um einer höheren oder fortgeschrittenen Einsicht willen – vom bedruckten Papier trennen darf – und muss! Der Charme der Demokratie besteht darin, dass die Wählerinnen und Wähler in regelmäßigen Abstanden darüber befinden können, ob die unter Beweis gestellte politische Kunst für ein erneuertes Mandat ausreichend genug war oder eben nicht. Demokratie besteht nicht darin, immer neu die Fleißbildchen der Basis abzuholen und alles zu vermeiden, was die Zustimmungsrate negativ beeinflussen könnte. Vor der letzten Legislaturperiode versprach Merkel, dass es mit ihr nie und nimmer eine PKW-Maut geben würde. Bei der jetzigen Bundestagswahl haben die Wählerinnen und Wähler ihre Chance der Bewertung genutzt.
Mit Recht betonen Steinmeier und Schäuble, dass Parteiräson nicht das oberste Prinzip demokratischer Verantwortung sein dürfe. Sich dieser Aufforderung und Einsicht zu öffnen, benötigt freilich Demut und wirklichen Patriotismus.
Wenn nach den Aussagen des Grundgesetzes den politischen Parteien ein Beitrag zur Willensbildung des Volkes zuerkannt wird, könnte diese Willensbildung in einer Situation wie der jetzt eingetretenen auch darin bestehen, einer ideologisch gespaltenen Nation dabei zu helfen, sich vornehmlich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und nicht immer neu mit dem Trennenden hausieren zu gehen. Deutschland ist keine Insel der Seligen, und seine Demokratie ist noch jung: sie darf sich ausprobieren. Aber so unangefochten stabil ist sie nicht, um nicht plötzlich doch vor einem Desaster zu stehen. Nimm nur einmal die wirtschaftliche Prosperität weg, und Du wirst sehen, ob und wie weit das Prinzip Demokratie in den Köpfen und Herzen verankert ist.
Die jüngere Geschichte lehrt, in welche Richtung ein irritiertes Staatsvolk rücken kann.