O si tacuisses

Angela Merkel wird noch lange an den Abend des 26. Juni 2017 denken, als sie im Brigitte-Talk über die „Ehe für alle“ befragt wurde. Wer sich die bedächtige und zugleich verschwurbelte Antwort mit ihrer – diplomatisch ausgedrückt – wenig eleganten Rhetorik wiederholt anschaut und anhört, muss zu der Einsicht gelangen, dass sich die Kanzlerin unfreiwillig auf ein mehr als gefährliches Pflaster mit folgenreicher Schieflage begeben hat. Dass sie sich hernach „befremdet“ über die Reaktionen im Lager der parteipolitischen Gegner äußert, ist das hilflose Zurückrudern angesichts einer – so steht zu vermuten – völlig unbeabsichtigten parlamentarischen Wirkungsgeschichte. Merkel positionierte das Anliegen eher grundsätzlich in den Kontext des einzelnen Gewissens und dachte dabei wohl kaum an eine zeitnahe Bundestagsabstimmung unter Aufhebung der Fraktionsdisziplin (ohne die sonst üblichen vorausgehenden Probeabstimmungen). Das Entsetzen in den eigenen Reihen ist groß: die „Chefin“ hat eine Panne produziert. Auch wenn die Kanzlerin die Nation schon wiederholt mit atemberaubenden Kehrtwendungen ihrer politischen Position konfrontiert hat, darf im konkreten Fall doch davon ausgegangen werden, dass das jetzt eingetrete Debakel nicht wirklich von ihr intendiert war.

Es ehrt den Menschen Angela Merkel, dass sie es sich bei ihrem Statement nicht einfach gemacht hat. Sie rang nach Worten, um niemanden unnötig zu verletzen und sich selbst als eine nachdenkliche und behutsam reflektierende Person dazustellen. Man hätte sich gewünscht, dass sie sich genau so auch in anderen Kontexten politischer Entscheidung verhalten hätte. Schwer erträglich ist freilich die auf Nachfrage wiederholt von ihr vorgetragene Argumentation, dass es für sie nachvollziehbar sei, wenn etwa ein Jugendamt Kinder in die Obhut eines lesbischen Paares gäbe, statt sie in einer „normalen“ Familie zu belassen, in der Streitereien und häusliche Gewalt an der Tagesordnung seien. Eine solche Argumentationsfigur ist – wenn man es scharf formulieren will – perfide, auch wenn sie im öffentlichen Diskurs gang und gäbe geworden ist: „besser ein sauberer Amateur als ein gedopter Leistungssportler!“ Als ob – um zum konkreten Beispiel zurückzukommen – nicht in zahllosen „klassischen“, also heterosexuellen, Ehen tadellose Erziehungsarbeit geleistet würde. Mit anderen Worten: wenn ein respektabler Einzelfall zum Maßstab und Vorbild der Mehrheit gekürt wird, hinkt die Argumentation, und zwar ganz gewaltig. Aber eben dieses – pardon! – Herumgeeiere der Kanzlerin hat die sich jetzt neu anbahnende parlamentarische Mehrheit jenseits der derzeitigen Koalition durchaus schadenfroh als Steilvorlage aufgegriffen. Ein Eigentor der Kanzlerin. Dass es unbeabsichtigt war, gehört zum Wesen eines Eigentors.

Neben der politischen Dimension des Vorgangs, der durchaus auch die Frage nach tatsächlicher Trittfestigkeit und Qualifikation der Kandidatin stellt, sei aus der Sicht eines christlichen Staatsbürgers an den Hinweis von Kardinal Marx als dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz erinnert, der es bedauert, „wenn der Ehebegriff aufgelöst werden soll und damit die christliche Auffassung von Ehe und das staatliche Konzept weiter auseinandergehen“. Dieser schleichende Prozess der Säkularisierung und Entzweiung der Zivilgesellschaft, der sich trotz aller juristischen Rabulistik immer weiter vom Geist des Grundgesetzes entfernt, macht es im Blick auf die anstehende Bundestagswahl schwer, dort ein Kreuzchen zu setzen, wo eine höchstmögliche Konvergenz zwischen persönlicher Überzeugung und politischer Programmatik gegeben ist. Wenn die demokratischen Parteien zur „Willensbildung“ des Volkes beitragen sollen, stellt sich die je persönliche Frage, ob sich im Angebot eine Partei findet, die den eigenen Willen wirklich „bildet“ und profiliert, und der man folglich ein politisches Mandat anvertrauen will.

Stimmenthaltung in der Wahlkabine wäre in diesem Fall kein Zeichen von Politikverdrossenheit, sondern ein demokratisch legitimer Aufstand des Gewissens. Nichts Neues unter germanischer Sonne.