Eine Zeit zum Klagen

(Prediger 3,4)

Im Hauptportal des Freiburger Münsters ist das Panorama des Jesuslebens abgebildet, zentriert in der Szene des Gekreuzigten. Zu seiner Linken sind jene zu sehen, die nach damaliger Vorstellung der Verdammnis überantwortet sind. Bei genauerem Hinsehen erkennt man in dieser Menschengruppe auch eine Person, die eine goldene Mitra trägt. Ihr Glanz schützt nicht: unsere Vorfahren und die Künstler der damaligen Zeit brauchten offenbar nicht darüber belehrt werden, dass auch hohe geistliche Würdenträger allein durch ihr Amt nicht bewahrt sind vor jenem endgültigen Gericht, mit dem der gekreuzigte Auferstandene das wirklich letzte Wort spricht, das jedem menschlichen Urteil entzogen ist.

In unseren Tagen bekommt jene Darstellung vom Endgericht eine bedrückende Aktualität. Die Kommentare zum Freiburger Missbrauchsbericht steigern sich in ein Fortissimo und bekunden eine Resonanz der Erschütterung und Fassungslosigkeit. Tatsächlich ist es unerhört und kaum vorstellbar, wie verschleiernder Umgang mit dem düsteren Phänomen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen gleichsam zur geläufigen Arbeitsroutine wurde und jenes zugleich fragwürdige und doch auch zerbrechliche System einer absolutistischen Ausübung von überantworteter oder selbstbestimmter Macht und Vollmacht hervorbrachte. Dass jegliche Kontrolle oder Mitsprache dadurch neutralisiert wurde, dass die amtliche Befugnis der Personalverantwortung mit dem seelsorgerlich garantierten Berufsgeheimnis verquickt wurde, ist fraglos ein unerhörter Exzess.

Auch nach den mit investigativer Gründlichkeit durchgeführten Untersuchungen und Analysen dürfte noch manches ans Licht kommen, was weiter dazu beiträgt, die gefährlichen Begleiterscheinungen einer falsch verstandenen Hierarchie aufzudecken. Episkopale Macht kann letztlich nur durch das aufrichtige Gewissen der Amtsträger selbst kontrolliert werden. Dazu braucht es die Bereitschaft, sich beraten und korrigieren zu lassen – es braucht eine mit der Weihe nicht automatisch einhergehende menschliche Größe und demütige Disziplin. Vielleicht ist es eine Konsequenz des derzeitigen Schreckens, dass neu begriffen wird, dass „Hierarchie“ die „Herrschaft des Heiligen“ meint und nicht die sakrosankte „Heiligkeit der Herrschenden“. Besonders auch jene, die bei ihrem Eintritt in den Priesterstand dem ordinierenden Bischof und auch seinen Nachfolgern „Ehrfurcht und Gehorsam“ versprechen, müssen sich darauf verlassen können, dass sie von ihrem Oberen ebenfalls Ehrfurcht erwarten dürfen: sprich eine lautere Amtsführung, die sie nicht zu ahnungslosen Mitgliedern einer miserablen „Täterorganisation“ macht, zu Opfern einer unkontrollierten Autorität.

Über allen im aktuellen Diskurs neu entwickelten oder wiederholt vorgetragenen Desideraten steht die beklemmende Prognose eines weltweit anerkannten Fachmanns, des Jesuiten Hans Zollner. Als Leiter des Institute of Anthropology der Gregoriana in Rom trifft er die desillusionierende Feststellung, dass der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein Phänomen sei, das es seit Beginn der Menschheitsgeschichte gibt, in manchen Kulturen sogar als selbstverständlich praktiziert oder toleriert. Selbst wenn, so der Kinderschutzexperte, alle Handlungen sexualisierter Gewalt identifiziert und „aufgearbeitet“ sein sollten, wird es weiterhin pädophile Übergriffe und Vergehen geben. „Der Mensch ist ein aggressives Tier!“, so das bestürzende Resümee seiner Expertise.

Vielleicht ist es diese in den Tiefen menschlicher Verhaltensstrukturen lauernde Gefahr, die zu einer kollektiven Abwehr und Ächtung pädophiler Kriminalität führt. Es braucht keine besondere psychologische Kenntnis, um den Sündenbock-Mechanismus zu identifizieren, den man – letztlich vergeblich – praktiziert, um sich vermeintlich selbst zu exkulpieren. Der Horror angesichts aufgedeckter Missetaten, jener der Täter und die derer, die sie verschweigen und unsichtbar machen wollen, korrespondiert mit einer tiefsitzenden Angst vor unkontrollierter Triebhaftigkeit in der je eigenen Existenz. Was man an anderen entsetzlich findet, kann ein Spiegelbild der Ablehnung seiner selbst sein. Die Menschheit sitzt im Boot einer Schicksalsgemeinschaft, die früher einmal mit dem Begriff des peccatum originale, der Ursünde beschrieben wurde: die fatale Freiheit, Böses zu tun.

Was soll also, so könnte man mit nachdenklicher Gelassenheit fragen, der Sturm der Entrüstung gegen jene, die man als die Ursache des Übels meint identifizieren zu können. Ist den über Jahre hinweg ignorierten Opfern sexuellen Missbrauchs dadurch geholfen, dass man neben ihren kriminell gewordenen Peinigern auch jene zur Rechenschaft zieht, die in einer Mischung von Ignoranz des pathologischen Befundes, von spirituell überhöhtem Schutz einer kirchlichen Makellosigkeit und von nicht reflektierter beziehungsweise eigenmächtiger Ausübung ihres Amts „gewaltet“ haben?

Um nicht missverstanden zu werden: nichts, aber auch gar nichts von geschehenem Unrecht darf bagatellisiert oder dem konsequenten Handeln einer rechtsstaatlichen Justiz entzogen werden! Aber ist es nicht so, dass nicht wenige von denen, die sich jahrelang in selbstherrlicher Weise ein intransparentes Handeln angeeignet und sich in ihrem Tun unkontrolliert selbst legitimiert haben, längst in den Trümmern ihrer vormaligen Handlungsmuster wiederfinden? Müssen sie noch den Mechanismen von Rache und Hass, von Schadenfreude und Verachtung überantwortet werden?

In der berechtigten und derzeit immer neu gestellten Frage „Wie soll es jetzt weitergehen?“ sollte bedacht werden, dass unversöhnliche Reaktionen letztlich auch dem schaden, der sich von ihnen leiten lässt. Wer Rache übt und Denkmäler einreißt, Bilder abhängt und Namen aus dem Gedächtnis der Gesellschaft entfernt, wird nur eine kurzfristige Genugtuung empfinden. Eine aufgeheizte Empörungskultur bringt in einer Krise wie der gegenwärtigen keine Lösung. Ist es nicht an der Zeit, sich in seinem Verhalten an jenen „systemischen“ Vorgaben zu orientieren, die unserer Kirche aus den Weisungen Jesu erwachsen, also sich gerade jetzt den Provokationen des Evangeliums, etwa den Seligpreisungen der Bergpredigt, zu stellen? Was bedeutet die Botschaft von Vergebung, Versöhnung in der derzeitigen Situation? So zu fragen ist keine Einladung zu naiver Entschuldigung. Nein, es gilt, ein Kriterium Jesu anzuwenden: die Unterscheidung von Sünder und Sünde, von Tat und Täter.

Es ist ein sehr schmaler Grat zwischen Vergebung und Verharmlosung. Der Ernst der eingetretenen Situation erlaubt keinen Übergang zur Tagesordnung. Gefordert ist jede nur denkbare Anstrengung im Bereich der Kardinaltugenden: Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit. Eine Gemeinschaft, die solche zumutenden Haltungen aus dem Auge verlöre, würde ihre Identität noch weiter zerstören, als diese durch das beklagte Unrecht schon genug beschädigt oder verraten ist.

Entsetzt und fassungslos zu sein, ist verständlich. Aber es darf nicht die einzige – und letztlich hilflose – Emotion sein. Die „Frucht des Geistes Gottes“ (Gal. 5,22) hat verheißungsvollere Signaturen.

„Töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit“ (Prediger 3,3).

Freiburg, 29.04.2023

Aufarbeitung und Prävention

Anmerkungen zu den „Empfehlungen“ der Freiburger GE-Kommission[1]
von Wolfgang Sauer, 10.05.2024
(Fußnoten befinden sich am Ende des Textes)

Vorbemerkung

Mit Datum vom 18. März 2024 hat die „GE[2]-Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Erzdiözese Freiburg“ ein Dokument veröffentlicht, in dem die fünf unterzeichnenden Mitglieder auf Basis einer Auswertung des am 11. April 2023 in der Katholischen Akademie Freiburg vorgelegten Abschlussberichts der Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“ weitere Schritte der Aufarbeitung, der Analyse systembedingter Gründe sowie präventive Empfehlungen vortragen. – Die genannte Publikation fand ein breites mediales Echo, in welchem vor allem die Kritik an den Machtstrukturen in der katholischen Kirche hervorgehoben wurde.

Mit meinen im Folgenden vorgetragenen Anmerkungen versuche ich eine kritische Relecture des besagten Dokuments (im folgenden „KE“) und beziehe mich dabei auf meine persönlichen Erfahrungen nach mehr als 50 Jahren priesterlicher Tätigkeit, in durchaus relevanten Kontexten[3]. – Vor diesem Hintergrund sehe ich mich berechtigt und verpflichtet, die Darlegungen der Kommission mit eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zu kontrastieren: dies erfolgt „mea sponte“, also ohne externe Beauftragung, Absprache oder Legitimation. Dabei verstehe ich meine Intervention nicht als Gegenrede, zumal ich eine ganze Reihe der angestellten Analysen zustimmend nachvollziehen kann. Gleichwohl scheint mir der Einspruch aus der Binnensicht eines Mitglieds der –seitens der GE-Kommission massiv problematisierten– Berufsgruppe „Priester“ angezeigt. Die in einer „Experten“-Kommission offenbar nicht vorgesehene Einbeziehung originärer und authentischer priesterlicher Berufserfahrung statuiere ich – bei allem Respekt vor der Expertise der Fachleute aus den in der Kommission vertretenen Disziplinen bzw. der schwerwiegenden Leiderfahrung eines Missbrauchsopfers – als strukturelles Defizit. Dies zu verifizieren ist die Intention des nachfolgenden Statements. Ich folge damit der Reihenfolge der Gliederung des veröffentlichten Dokuments, wobei ich die Kapitel „2. Unterstützungsmaßnahmen für Betroffene“, „6. Personalkommission“ und „7. Aktenführung“ aus Gründen nicht gegebener Zuständigkeit außer Acht lasse.

  1. Zum Kapitel „Einführung“ (Absätze 1-10 der „Empfehlungen“)
  2. Zum Kapitel „1. Kulturwandel“ (Absätze 11-28 der „Empfehlungen“)
  3. Zum Kapitel „3 Ausbildung von künftigem Priesterpersonal“ (Absätze 48-65 der „Empfehlungen“)
  4. Zum Kapitel „4. Nachfolgende Begleitung“ (Absätze 66-72 der „Empfehlungen“)
  5. Zum Kapitel „5. Unabhängigkeit der Person für Interventionen“ (Absätze 73-76 der „Empfehlungen“)
  6. Zum Kapitel „8. Engagement für ein zentrales interdiözesanes Gericht“ (Absätze 82-83 der „Empfehlungen“)
  7. Zum Kapitel „9. Bystander-Problematik“ (Absätze 84-88 der „Empfehlungen“)
  8. Zum Kapitel „10. Theologische Umdenkprozesse gestalten“ (Absätze 89-91 der „Empfehlungen“
  9. „Zum Kapitel „11. Prävention“ (Absätze 92-95 der „Empfehlungen“)

Kapitel „Einführung“ (Absätze 1-10 KE)

Eine aus bischöflichem Mund durchaus bemerkenswerte Feststellung von Heiner Wilmer (Hildesheim) („Ich glaube, der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche“, 14.12.2018) wurde zu einem Narrativ im Kontext zahlreicher bisher vorgelegter Analysen und Berichte. – Zur Erinnerung: anlässlich seiner Begegnung mit den Medienvertretern am 16. März 20213, wenige Tage nach seiner Wahl, hatte Papst Franziskus ausdrücklich auf die Kirche als einer menschlichen und geschichtlichen Institution verwiesen und damit die Lehre des Konzils von der „realitas complexa“ (Lumen gentium 8) aufgegriffen.

Wenn man mit dem heutigen Wissen um die Verbrechen im Raum der katholischen Kirche die Vergebungsbitten Johannes Pauls II. vom 12. März 2000 liest[4], muss einen die Nichterwähnung des schon damals zweifelllos bekannten Missbrauchsgeschehens mit Scham erfüllen. So gesehen insistiert die Kommission mit gewissem Recht auf „systemischen Ursachen“, die in der Kirche als einer aus Menschen (mit all ihren Abgründen!) bestehenden Institution dominant werden können und geworden sind. Missbrauchte Macht, die zur unmenschlichen Gewalt pervertiert, macht vor geweihten Amtsträgern nicht Halt. Einigermaßen desillusionierend stellt P. Hans Zollner SJ, ein auch und gerade außerhalb der Kirche international anerkannter Experte, fest, dass es Missbrauch gibt, seit es Menschen gibt, und auch weiterhin geben wird, trotz aller Maßnahmen der Prävention. Seine Feststellung „Der Mensch ist ein aggressives Tier“ belegt, dass auch Tore der Kirche zu Pforten der Hölle werden können.

Die Kommission sieht die Ursachen solcher Perversion in den Strukturen eines hierarchisch-autokratisch verfassten und auf abhängigen Gehorsams fixierten Systems. Bereits im öffentlichen Vortrag des Berichts der genannten „Arbeitsgruppe“ (am 18.4.2023) meinte der Referent feststellen zu müssen, dass etwa während der Priesterweihe die Spuren eines entpersonalisierenden (Kadaver-)Gehorsams erkennbar wären, wenn z.B. die Kandidaten auf dem Boden ausgestreckt vor dem Bischof liegen müssten. – Als ich im Nachgang schriftlich darauf aufmerksam machte, dass die beobachtete „Prostratio“ ein Zeichen der Hingabe an Gott seien, und der Bischof dabei nicht etwa herrschaftlich über seinen Lakaien thronte, sondern, ebenfalls zum Altar gewandt, die Allerheiligenlitanei der Gemeinde mitbetete, wurde meine korrigierende Intervention mit der Antwort beschieden, dass die Arbeitsgruppe ihre Arbeit erledigt hätte und für weitere Diskussionen nicht mehr zur Verfügung stünde.

Ich habe den Eindruck, dass in KE das Gehorsamsversprechen der Weihehandlung nicht in seinem ekklesialen Charakter auf Gegenseitigkeit verstanden, sondern ausschließlich als Indiz für eine servile Abhängigkeit interpretiert wird. Jedoch gilt: mit der Entgegennahme des Gehorsamsversprechens verpflichtet sich der weihende Bischof seinerseits zu einem transparenten und vom Maßstab des Evangeliums geleiteten Verhalten gegenüber den neuen Mitbrüdern.

Dass ein solches Verhalten der Wahrhaftigkeit und reziproken Verantwortung in bekannt gewordenen Fällen missachtet oder verweigert wurde, hat prioritär nicht „systemische“ Ursachen, sondern stellt einen schwerwiegenden Charakterfehler sowie den Erweis individuell-schuldhaften Handelns seitens kirchlicher Obrigkeit dar. „Opfer des Systems“ geworden zu sein wäre eine allzu billige Entschuldigung für moralisches Versagen – im Einzelfall durchaus als Folge eines aus der betreffenden Biographie erklärbaren Psychogramms.

Vor diesem Hintergrund bezweifle ich die apodiktische Feststellung in KE „Systeme, die einerseits keine offene Fehlerkultur oder Kultur der eigenen Hinterfragung kennen und die andererseits autoritär Gehorsam verlangen und streng hierarchisch organisiert sind, sind eher gefährdet, Orte für Misshandlung und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Minderjährige zu sein“ (KE4).

Die Folgerung „Mit Rücksicht darauf kann die GE-Kommission nicht umhin, festzustellen, dass die Kirche kein sicherer Ort für Minderjährige bezogen auf Priester werden kann, solange diese missbrauchsbegünstigenden systemischen Faktoren wirksam bleiben“ lese ich als Fundamentalkritik mit ultimativem Unterton. Die Autorinnen und Autoren von KE bekunden ihre tiefgehende Skepsis und Abneigung gegenüber dem „System Kirche“, in dem eine aus der Zeit gefallene Sexualmoral, der priesterliche Zölibat und die Nichtzulassung von Frauen zu den Weiheämtern als hochgradige „Risikofaktoren“ wirksam seien. „Es ist daher zu fragen, ob die faktische, mit der Weihe assoziierte moralische Erhöhung von Priestern und die Selbstattestierung einer sakralen Aura durch Priester dazu führen, dass auf der mentalen Ebene ein schuldfreier Raum erzeugt wird, in dem die Einsicht in kriminelles Tun und entsprechende Folgehandlungen auf Bistumsebene nicht mehr zur Realität gehören. Diese, mit der Weihe verbundenen spezifischen katholischen Risikofaktoren müssen –neben den allgemeinen – von den Bistumsverantwortlichen zur Kenntnis genommen und daraus Konsequenzen gezogen werden. Andernfalls wäre eine ortskirchliche wie jede andere innerkirchliche GE-Kommission überflüssig, sodass man sich in der Konsequenz auf die allgemeinen Regelungen zu Schutzkonzepten beschränken könnte“ (KE10). Der in solcher Formulierung zum Ausdruck kommende selbstreferentiell-beleidigte Unterton sollte m.E. in einer professoralen Expertise keinen Platz haben.

Die ins Feld geführte „Selbstattestierung einer sakralen Aura“ des Priesters als einer unantastbaren und nicht hinterfragbaren Sakralgestalt erscheint mir weder intentional noch faktisch gegeben und bekundet eine hochgradig negative Einschätzung seitens der KE. Der priesterliche Zölibat generiert nicht eo ipso eine archaische „Auratisierung“, vielmehr – zumindest tendenziell – eine der unmittelbaren Sozialkontrolle entzogene Lebensweise. Darin besteht m.E. die spezifische Herausforderung.

Kapitel „1. Kulturwandel“ (Absätze 11-28 KE)

Der von KE urgierte „Kulturwandel“ geht davon aus, dass es auf der Leitungsebene der Erzdiözese Freiburg sehr wohl ein umfängliches Wissen um Missbrauchsverfehlungen von Priestern gab, welches jedoch in einer Kultur des Gehorsams und Verschwiegenheit unterdrückt wurde, beides bedingt durch die hierarchische Verfasstheit des kirchlichen Systems. Vor dem Hintergrund einer eindimensional fixierten Sexualmoral würde das Verbrechen des Missbrauchs ausschließlich als „contra sextum“ definiert und so einem weiter gefassten Bereich der persönlichen Verantwortung entzogen. „Es gab (und gibt) nicht nur eine Kultur des Verschweigens, sondern auch die Verweigerung einer von Selbstinitiative getragenen, bezogen auf persönliche Hinsichten risikobelasteten Verantwortungsübernahme. Sehr offensichtlich haben in der Hierarchie untergeordnete Personen gemeint, sie müssten sich dem von oben organisierten Umgang mit sexuellem Missbrauch beugen, weil den Erzbischöfen von Freiburg aufgrund ihres Amtes legitimierweise eine autoritäre Entscheidungskompetenz zukomme. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das Selbstverständnis innerhalb des Klerus, einen ‚Dienst‘ auszuüben, zur Verschleierung dessen geführt hat, dass, wie in jedem anderen sozialen System auch, in der Kirche Macht ausgeübt wird und dies über den Gebrauch des Begriffs Dienst bzw. Dienstgemeinschaft invisibilisiert wird. Dasselbe gilt für den Gebrauch des Begriffs Autorität in der Kirche. Autorität existiert in einer sozialwissenschaftlichen Sicht allerdings nicht, sofern sie nicht zugeschrieben wird. Offensichtlich wurde Bischöfen selbst dann noch eine Autorität zugeschrieben, der Gehorsam zu leisten sei, als längst bekannt war, dass sie sexuellen Missbrauch vertuschten und Täter schützten.“ (KE17). Konstatiert wird eine systemische Diastase zwischen Gehorsam gegenüber der Autorität einerseits und dem Aufstand des Gewissens in Einsicht um persönliche Verantwortung andererseits. „Die GE-Kommission zeigt sich nachhaltig davon irritiert, dass es auf der Leitungsebene nie zu einem entschiedenen, sichtbaren, notfalls auch die Öffentlichkeit suchenden Widerstand in Bezug auf den Umgang der laut AG Aktenanalyse verantwortlich handelnden Personen mit sexuellem Missbrauch kam. Dieser Befund wiegt umso schwerer, als es zum Kern christlicher Ethik gehört, gerade für die Schwächsten und Bedrohten freimütig die Stimme zu erheben. Evident wurde in der Vergangenheit, dass eine Kultur gepflegt wurde, die nur das System Amtskirche im Blick hatte und sich abgeschottet hat, auch um mögliche Angriffe abzuwehren, die sich aus sexueller Gewalt von Priestern hätten ergeben können. Umso mehr zeigt sich, dass ein Wandel der Diskussionskultur auf einer breiteren Leitungsebene (wie Metropolitankapitel und Ordinariatskonferenz), der auch Einfluss und Wirkung auf den jeweils Letztverantwortlichen zu jeder Zeit haben kann, stattfinden muss“ (KE21). Der letztgenannten Forderung nach einem „Wandel der Diskussionskultur“ ist zuzustimmen, desgleichen der Aufforderung an die jeweils Verantwortlichen, eine entstandene „Klerikalkultur“ zu hinterfragen und sich kontinuierlichen Prozessen der Selbstreflexion zu unterziehen. Aus unmittelbarer Einsicht und Sachkenntnis muss ich jedoch die Unterstellung zurückweisen, dass es auf Leitungsebene unter Hintanstellung der Maßstäbe christlicher Ethik nie (!) zu einem Widerstand gegenüber handelnden Personen kam. Diese Entgegnung ließe sich z.B. durch Einsicht in das ausführliche Protokoll meiner Zeugenbefragung (am 22.01.2020) umfänglich überprüfen. Seinerzeit wurden meine Hinweise als maßgebliche Zeugnisse internen Widerstands gewertet und zu den Akten genommen. Auf eine entsprechende Einladung würde ich mich dem (vgl. KE27) geforderten Prozess bezüglich einer „Kultur des Schweigens und der Inaktivität“ ohne Vorbehalte stellen.

Kapitel „3. Ausbildung von künftigem Priesterpersonal“ (Absätze 48-65 KE)

Die GE-Kommission schließt zwar auch nicht aus, dass es immer Männer geben wird, die ein durchaus zufriedenes Leben als ehelose Priester führen. Zudem betont sie, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat(sverpflichtung) und Missbrauch gibt“ (KE57). Dieser vermeintlich wohlwollenden Feststellung lässt KE die Aussage folgen, dass die verpflichtende zölibatäre Lebensform dennoch einen „spezifisch katholischen Risikofaktor“ darstelle. Diese Behauptung wird eingebettet in eine Pauschalkritik der bis dato praktizierten Priesterausbildung, in der das Thema Sexualität tabuisiert und zugleich quasi augenzwinkernd toleriert werde, dass „es unter Priestern eine erhebliche Anzahl von Personen geben dürfte, die einvernehmliche Partnerschaften leben“. Das Wissen, dass der Zölibatspflicht nur begrenzt entsprochen wird, sei in den Priesterseminaren wahrscheinlich bekannt. Schlussfolgernd könne man sagen, dass der so genannte Pflichtzölibat, begründet mit einer nicht haltbaren spiritualisierenden Begründung („Christusfreundschaft“) Teil eines Unterdrückungssystems sei, welches in Konsequenz mit dem Droh-Instrument von Berufsverboten operiere und sexuell unreife Personen in eine Lebensentscheidung dränge („lockt“), von deren Konsequenzen sie mangels alternativer Erfahrung keine Vorstellung haben könnten. „Die GE-Kommission meldet erhebliche Zweifel daran an, ob Fragen von Beziehung und Sexualität vor diesem Hintergrund tatsächlich so offen im Rahmen der Priesterausbildung thematisiert werden können (in Gruppengesprächen, im Forum internum des Spirituals), wie dies in den entsprechenden Gesprächen der GE-Kommission mit Verantwortlichen suggeriert worden ist. Es ist schwerlich vorstellbar, dass, wenn Offenheit unter der Drohung eines „Berufsverbots“ steht, ein Mensch – zumal ein Adoleszenter – sich offen über seine Sexualität, sexuelle Orientierung oder seine Probleme mit der Sexualität oder auch dem Zölibat äußert. Damit wird einer wirklichen Auseinandersetzung aus Sicht der GE-Kommission die Grundlage für eine offene und in dieser Entwicklungsphase unbedingt notwendige Möglichkeit des Explorierens der eigenen Persönlichkeit auch im Bereich der Sexualität entzogen. Es verhindert überdies, aus Kinderschutzaspekten wirklich problematische Präferenzkonstellationen (wie pädosexuelle Präferenzen) zu identifizieren, die eine Eignung für den Beruf ausschließen“ (KE54). Die Fokussierung auf den Risikofaktor Pädosexualität entspricht zweifellos dem Arbeitsauftrag der Kommission. Zugleich beeindruckt jedoch, wie ein Personenkreis, der das Leben im Priesterseminar zu keinem Zeitpunkt unmittelbar durchlaufen haben dürfte, zu vermeintlich erkenntnisgenerierten Empfehlungen in diesem Bereich gelangt. – Die Zeit meiner eigenen Seminarerziehung (1966-1971) sowie meiner Zuständigkeit in der Priesterausbildung (1976-1985) liegt weit zurück. Aber bereits für diese früheren Zeiträume kann ich durch Aufzeichnungen zu meinen Spiritualsgesprächen und Exerzitienkursen nachweisen, dass das Thema Sexualität bzw. die Herausforderung der zölibatären Lebensform in extenso vorgestellt und freimütig diskutiert wurden. Humanwissenschaftliche Vorlesungen und Beratungen durch externe Fachleute aus dem Bereich der Psychologie und Anthropologie wurden in den „Ferienkursen“ bereits nach dem ersten Studienjahr durchgeführt, mit der nicht verwunderlichen Konsequenz, dass einzelne Seminaristen allein schon durch jene „konfrontierenden“ Impulse zu der Einsicht kamen, dass das „Berufsziel Priester“ nicht ihr Lebensinhalt werden könne. Auch wenn entsprechende Gespräche in den Bereich des „forum internum“ fallen, wüsste ich eine Reihe von Personen zu benennen, die ich auf dem Weg ihrer Entscheidung gegen den Priesterberuf und das damit verbundene zölibatäre Leben konstruktiv und in befreiender Atmosphäre begleitet habe. – Dies gilt übrigens auch für Priester, die nach Ihrer Weihe den Beruf aufgegeben haben: in vielen Fällen bedingt durch Lebensereignisse, die das zölibatäre Leben für sie nicht weiterhin möglich erscheinen ließen. Viele dieser ehemaligen Priester konnten für sich mit aktiver Unterstützung des Bistums neue Berufsfelder entdecken, in denen sie zusammen mit ihren Familien eine erfolgreiche und glückliche Existenz aufbauten. Ein bisweilen vermuteter „Absturz“ in prekäre Situationen ist mir nicht bekannt.

Von tabuisierendem Umgang mit dem Thema Sexualität (Homosexualität inbegriffen[5]) und einem latenten, in Existenzangst begründetem, Berufszwang kann nicht die Rede sein. Dies zu behaupten, wäre eine monströse Unterstellung und machte ausfolgernde Expertisen fragwürdig. Da das Problem pädosexueller Kriminalität in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch gesamtgesellschaftlich kein Thema war, kam es in der Ausbildung der Priesteramtskandidaten in der Tat nicht vor. Mir ist allerdings, nach der intensiven Lektüre des Berichts der „AG Macht und Missbrauch“, kein Fall erkennbar, bei dem Absolventen der damaligen Seminarausbildung unter Anklage kriminellen Missbrauchs straffällig geworden wären. – Dies spricht natürlich nicht gegen eine erhöhte Sensibilisierung für das Missbrauchsphänomen und eine entsprechende Prävention in der Ausbildungsphase. Es wäre jedoch ein kaum haltbares Vorurteil, wenn man den Priesterberuf als Attraktor für Personen mit pädophiler Neigung und hohem pädosexuellen Risikopotential einstufen würde. Die derzeitig praktizierten Methoden der Kandidatenauswahl als „untauglich“ zu desavouieren ist eine kühne Behauptung. Nach meinem unmittelbaren Kenntnisstand reklamiert KE so gesehen ein bereits längst vorhandenes Problembewusstsein.

Kapitel „4. Nachfolgende Begleitung“ (Absätze 66-72 KE)

Das eigene sexuelle Erleben und Partnerschaftsverlangen können, wie bereits ausgeführt, nach derzeitiger Praxis vor der Weihe nicht abschließend geklärt werden. Die GE-Kommission sieht deutlich die Gefahr, dass diese Bedürfnisse im Verlauf einer Biographie zunächst abgespalten werden, später jedoch – ggf. sogar umso stärker – aufbrechen. Angesichts des Machtgefälles, das in seelsorglichen Beziehungen, zumal bezogen auf Minderjährige, herrscht, existiert hier ein deutliches Risikopotenzial“ (KE66). Von einem „Machtgefälle“ in seelsorgerlichen Beziehungen zu sprechen, setzt eine erklärtermaßen eigenwillige Sicht von Pastoral voraus. Nähme man diese Einschätzung zum Maßstab, müssten z.B. auch Eltern-Kind-Beziehungen als innerfamiliäres Risiko interpretiert werden. Die Vorstellung in KE, dass Priester, wenn sie „nach Fürsorge und Überwachung [sic!]“ aus der Seminarausbildung gleichsam auf die freie Wildbahn ihres Berufslebens entlassen wären, einem durchgängigen psychotherapeutische Coaching überstellt werden sollten, klassifiziert die Möglichkeit sexuellen Fehlverhaltens als permanentes Berufsrisiko. Dass in der „nachfolgenden Begleitung“ in jedem Berufsleben, also auch dem des Priesters, nie genug getan werden kann, steht außer Frage. Solche Begleitung darf aber nicht die Züge investigativer Kontrolle annehmen. Absolut nicht einleuchtend erscheint mir hierbei die „Interventions“-Empfehlung: „Begutachtungen und Therapien von auffällig gewordenen Priestern sollen in staatlich anerkannten Institutionen durch Therapeut:innen erfolgen und nicht durch Priester mit zusätzlichen psychologisch-therapeutischen Ausbildungen“ (KE71). Hier wird mit einer beachtlichen Arroganz unterstellt, dass Priester mit zusätzlich erworbener fachlicher Qualifikation nicht den Maßstäben medizinischer Professionalisierung entsprächen – oder womöglich durch das „vinculum communionis“ in ihrer fachlichen Kompetenz korrumpiert sein könnten. Da die besagte Option gegen die Begleitung durch speziell ausgebildete Priester nicht begründet wird, muss man persönliche Ressentiments vermuten, die in einer GE-Kommission nichts verloren haben sollten.

Kapitel „5. Unabhängigkeit der Person für Interventionen“ (Absätze 73-76 KE)

Die Befugnisse und dienstrechtliche Sicherheit der Person, die als Referent:in für Intervention arbeitet, gegenüber ihrem Vorgesetzten sind präziser zu fassen, als dies bisher der Fall ist. Der GE-Kommission leuchtet nicht ein, wie eine solche Person unabhängig sein können soll, wenn diese zugleich in einem dienstrechtlichen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber steht. Die Unabhängigkeit darf nicht von der jeweiligen Person des Vorgesetzten, letztlich des Generalvikars, abhängig sein. Allerdings würdigt die GE-Kommission, dass die Interventionsstelle innerhalb der Strukturen des Ordinariats vorgehalten wird“ (KE73). Dieser Verdacht gegen das „System Ordinariat“ sollte unbedingt im Detail begründet werden, um dem Verdacht eines Vorurteils („leuchtet nicht ein“) zu entgehen. Verstärkt wird dieser sinistre Eindruck durch die Aussage „Nach den Erfahrungen des GE-Kommissionsvorsitzenden durchmischen sich in den Schilderungen von Mitarbeitenden im Ordinariat die Eindrücke von Machtmissbrauch („Kultur der Angst“) und schlichter Unzufriedenheit mit dem Arbeitsverhältnis“ (KE74). Aussagen von Mitarbeitenden im Ordinariat sind zweifellos ernst zu nehmen. Ob eine möglicherweise existierende „Kultur der Angst“ im Ordinariat unmittelbar mit sexuellem Missbrauch durch Kleriker in Verbindung zu bringen ist, stellt eine gewagte These dar, die ebenfalls der Erläuterung bedarf. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir einen Hinweis auf eine in KE wiederholt verwendete Begrifflichkeit. Üblicherweise wird unter „Kultur“ die positive Pflege und Förderung gedeihlichen Wachstums verstanden. Von einer „Kultur der Angst, des Misstrauens, des Verschweigens“ zu sprechen, pervertiert den Begriff „Kultur“ zu einem Negativum par excellence.

Kapitel „8. Engagement für ein zentrales interdiözesanes Gericht“ (Absätze 82-83 KE)

Wegen der vergleichsweise geringen Anzahl der Straftaten in den einzelnen Diözesen würde eine Konzentration der Behandlung von Fällen bei einem einzigen Strafgericht zu einer Qualitätsverbesserung führen, da sich nur so Routinen einspielen können. Aufgrund der an einem solchen Gericht vorgehaltenen spezifischen Kompetenz könnte die Rechtsprechung vereinheitlicht werden, so dass zudem mehr Transparenz und Rechtssicherheit entsteht. Weiter ergäbe sich durch die Auslagerung aus der Diözese ein höherer Grad an professioneller Distanz, da die Verfahren nicht mehr durch diözesane „Mitbrüder“ durchgeführt würden“ (KE82). Die durchaus nachvollziehbare Empfehlung der Einrichtung eines zentralen interdiözesanen Gerichts wird mit der „vergleichsweise geringen Anzahl der Straftaten“ begründet. Durch diese knappe Feststellung von KE relativiert sich der teilweise alarmierende Impetus des Kommissionsdokuments. Allerdings verrät die Apostrophierung des Begriffs „Mitbrüder“ einmal neu eine durchgängige Verdachtbereitschaft in KE, den Klerus als eine verschworene männerbündische Gruppe zu interpretieren, die sich gegen eine feindselige Außenwelt abschirmt. Diese erkennbar antiklerikale Obsession sollte einer gründlichen Selbstreflexion unterzogen werden.

Kapitel „9. Bystander-Problematik“ (Absätze 84-88 KE)

Um das Bystanderphänomen ins Bewusstsein zu heben, ist dies Thema zum Gegenstand in den beratenden Gremien des Erzbischofs (Dekanerunde, Priesterrat etc.) und auf den Ebenen der Pfarreien zu machen. Es ist dafür zu sensibilisieren, dass ein Wegschauen in aufkeimenden Verdachtsfällen auf eine Mittäterschaft hinausläuft“ (KE87). Bereits am 11.05.2023 hat der Vorsitzende der GE-Kommission anlässlich einer Podiumsdiskussion („Freiburger Religionsgespräche“) in der Universität das Phänomen der „Bystander“ problematisiert. Er nahm dabei die Mitglieder der Freiburger Ordinariatssitzung in den Blick, die durch Passivität in ihrem Verhalten das System der Vertuschung unterstützten. Denkbar also das Motiv, dass sich Mitglieder auf der Leitungsebene des Bistums auf diese Weise eigene Karrierepläne nicht gefährden oder sich dem Oberhirten gegenüber als willfährige Mitarbeiter erweisen wollten. Dieses Interpretationsmuster ist verbreitet, und der Ruf „Ihr müsst doch etwas gewusst haben!“ ist nachvollziehbar. Es ist in der Tat schwer zu erklären, wie es geschehen konnte, dass ein Kreis von ansonsten reflektierten Mitarbeitern sich über lange Zeit hinter das Licht führen lassen konnte. Dieses Odium wird vermutlich unausrottbar bleiben. Natürlich erweist sich gerade auch in diesem Kontext die Defizienz eines streng hierarchischen Systems. Das evangeliengemäße Gelingen ist fast ausschließlich vom höchstmöglichen moralischen Ethos der Person an der Spitze des Systems abhängig. Die von KE zurecht geforderte Sensibilisierung muss „top-down“ ansetzen.

Kapitel „10. Theologische Umdenkprozesse gestalten“ (Absätze 89-91 KE)

KE ist der Überzeugung, dass überkommene theologische Denkfiguren den sexuellen Missbrauch von Kindern begünstigen. „Neben dem strikten Verständnis von Kirche als einer hierarchischen Stiftung göttlichen Rechts war dies ein seit der Antike bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sündhaftes Verständnis von Sexualität, dann die in ihrer historischen Entstehung zwar nachvollziehbare, gleichwohl problematische Figur eines character indelebilis, die zwar eine Differenzierung zwischen Amt und der Person des Amtsträgers vorgenommen hatte, sich in der Praxis jedoch als unwirksam erwies sowie eine marianische Vorstellung jungfräulicher Demut, die nicht nur die Amtsträger, sondern die Kirche überhaupt („Braut Christi“) mit dem Ideal der Jungfräulichkeit und Unbeflecktheit auszeichnete“ (KE89). Immerhin wird eingeräumt, dass nicht verschwiegen werden kann „dass die sexuell-triebhafte Struktur, die Menschen wie viele andere tierische Lebewesen, bestimmt, abgründige Seiten kennt“, die offensichtlich nicht nur auf theologische Denkfiguren zurückzuführen sind. Allerdings ist in der Empfehlung eine ekklesiologische Fundamentalkritik am kirchlichen Selbstverständnis erkennbar, die weit mehr als nur reformatorische Züge trägt.

Kapitel „11. Prävention“ (Absätze 92-95 KE)

Da in Aufarbeitungsberichten, beginnend mit der MHG-Studie von 2018, die Kinderbeichte wiederholt als Anbahnungsort von sexuellem Missbrauch genannt wird, sollte dringend darüber nachgedacht werden, Erstkommunion und Erstbeichte zu entkoppeln. Grundsätzlich sind ohnehin aus einer entwicklungspsychologischen Sicht erhebliche Zweifel daran anzumelden, ob Kinder im Alter von sieben Jahren überhaupt ein Schuld- bzw. Sündenbewusstseins entwickelt haben, um das Bußsakrament nachvollziehen zu können“ (KE94). Die Empfehlung zum Verzicht auf die Beichte im Zusammenhang mit der Erstkommunion geht von „einem Alter von sieben Jahren“ aus und gibt damit eine frappierende Unkenntnis der gängigen Erstkommunionpraxis zu erkennen. Abgesehen von einer sehr seltenen Praxis der „Frühkommunion“ werden Siebenjährige (!) nicht zu Erstkommunionkindern. Zudem ist im Blick auf die in der Kommission vorhandenen „erheblichen Zweifel“ am Schuld- bzw. Sündenbewusstsein anzumerken, dass Kinder im Alter der 3. Grundschulklasse sehr wohl eine Einsicht über unrechtes Tun besitzen, wenn sie etwa ihre Geschwister schlagen oder der Mutter Geld aus dem Portemonnaie entwenden. Die manchmal ins Feld geführte Möglichkeit einer lebenslangen Traumatisierung als Folge der Erstbeichte ist eher ein phantasiertes Problem der Erwachsenen und steht in keinem Verhältnis zu der befreiten, ja fröhlichen Erfahrung von Kindern, wenn sie endlich einmal über belastende Dinge sprechen dürfen, die sie nicht einmal ihren Eltern anvertrauen würden. Aus meiner bis heute aktiven Praxis in der Begegnung mit beichtenden Kindern weiß ich um die Absurdität einer Äußerung wie „Wenn Du heute zur Beichte gehst, bekommst Du den Kopf herunter gemacht!“, die glücklicherweise selbst vom betroffenen Kind nicht wirklich ernst genommen wird. Ich frage mich, ob nicht auch in diesem Kontext die reklamierte Expertise der Kommission nicht überzeugt, da keines ihrer Mitglieder über eine authentische Eigen-Erfahrung mit der Beichte eines Erstkommunionkindes verfügen dürfte. –

Man möge zudem bedenken, dass die im gegebenen Erkenntnisalter eines Kindes einsetzende Erziehung zu einem ehrlichen Umgang mit begangenem Unrecht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein kann. Ein Unschuldswahn, wie er zunehmend gepflegt wird, in dem sämtliche Missstände auf andere Instanzen verlagert werden und die eigenen Anteile völlig aus dem Blick geraten, besiegelt das Ende zivilisierten Zusammenlebens. Diese größeren Zusammenhänge gilt es zu bedenken.

Auch wenn in verschiedenen diözesanen Auswertungen Fälle von schrecklichen Missbrauchstaten im Zusammenhang mit Kinderbeichten referiert werden, sollten diese nicht extrapoliert werden mit dem Ergebnis, in der Kinderbeichte das präferentielle Einfallstor, den „Anbahnungsort“ zu kindlichem Missbrauch zu statuieren, und hinter den agierenden Priestern sexuelle Unholde zu wittern, die lüstern darauf sinnen, sich durch die Beichte „zur eigenen sexuellen Befriedigung“ (KE5) neue Opfer zu rekrutieren.

Schlussbemerkung

Gemäß dem ausgehandelten Auftrag versteht sich KE als Reformanstoß, und gibt seinen Empfehlungen das Gewicht einer conditio sine qua non für eine Qualifizierung des Priesterpersonals. Das „System Kirche“ wird als extrem risikobehaftet identifiziert und könne nur durch einen grundlegenden „Kulturwandel“ heutigen Maßstäben und Ansprüchen genügen. – Die Analyse externer Fachleute nimmt hierbei erkennbar einen säkularisierenden Standpunkt ein und betrachtet die problematisierte Zielgruppe „Priester“ unter dem ausschließlichen Aspekt einer institutionellen Personalentenwicklung, unter besonderer Berücksichtigung eines in dieser Berufsgruppe tendenziell vorhandenen Missbrauchspotentials. Der aus humanwissenschaftlicher und juristischer Sicht formulierte Qualifikationsanspruch wird dabei extrem hoch angesiedelt, wie ihn ein „normaler“ Mensch mit seinen Stärken und Schwächen kaum erfüllen kann. Gefordert wird gewissermaßen eine elitäre Kaste von Personen, die a priori durch entsprechende Konditionierung in Auswahl, Ausbildung und beruflichem Tun gegen jegliche pädosexuelle Kriminalität immunisiert ist.

Es steht außer Frage, dass jede Form körperlichen und geistlichen Missbrauchs, näherhin von Kindern und Jugendlichen, eine schwerwiegend strafbare Handlung darstellt, die nach den Gesetzen des Rechtsstaates verfolgt und sanktioniert werden muss. Wegschauen ist unterlassene Hilfeleistung, Vertuschen ist kriminelle Komplizenschaft. Vor diesen Maßstäben muss jede priesterliche Existenz bestehen können.

Werden allerdings ausschließlich diese Aspekte fokussiert, mutiert der Beruf des Priesters zu einem seelenlosen Kultbeamten und Funktionär, dem jeglicher Esprit und Charme („Charisma“) abgeht. Er wird, auch und gerade was seine Ausstrahlung angeht, stets mit absolut angezogener Handbremse fahren und zu einer emotionslosen Gestalt, von der man nichts befürchtet – und auch nichts erwartet.

Aus der Begleitung von Mitbrüdern in der Priesterseelsorge, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, ist mir das dünne Eis sehr wohl bewusst, auf dem sich ein Seelsorger in seinem zwischenmenschlichen Engagement bewegt. Alle sogenannten „helfenden Berufe“ kennen das Problem von Nähe und Distanz und leiden in ihrem Gewissen nicht selten an manchen Erfahrungen der Grenzüberschreitung. Was lebenslang eingeübt werden muss ist jedoch nicht die penible Meidung jeglicher Versuchung, sondern die aufrichtige Selbsterkenntnis und Bereitschaft, das eigene Handeln vom Gegenüber her zu denken, gerade auch von den durch eigenes Verhalten ausgelösten Enttäuschungen und Verwundungen.

Dies alles sind, vom Beruf des Priesters her bedacht, vornehmlich spirituelle Qualitäten, die aus ehrlicher Selbstreflexion und der Verantwortung vor der jedem Menschen von Gott geschenkten Würde resultieren. Solches lässt sich nicht antrainieren und durch externe Maßnahmen kontrollieren oder evaluieren. Mir scheint, dass die Empfehlungen der Expertenkommission zweifellos Wichtiges adressieren, aber das Wesentliche des problematisierten Berufs nicht in den Blick bekommen.

Eine von jeglichen menschlichen Fehlern und Verirrungen befreite Kirche war das Ziel der Katharer-Bewegung im Hochmittelalter. In ihrer Weltanschauung und ihrem Streben nach absoluter Reinheit war die Vaterunser-Bitte „Vergib uns unsere Schuld!“ obsolet geworden. Wer aber die riskobefreite Fehlerlosigkeit erzeugen will, verlagert die fortbestehende dunkle Seite menschlicher Existenz in das Unterholz der Verdrängung.

Die christliche Form der Heilung ist dies nicht.

Fußnoten:

  1. Wortlaut des Dokuments im Download abrufbar unter https://ge-kommission-freiburg.de/
  2. Die Abkürzung „GE“ steht für „Gemeinsame Erklärung“ und bezieht sich auf die Übereinkunft des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz über verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche.
  3. Zu nennen sind meine Kaplanszeit in Mannheim, meine Tätigkeit in der Priesterausbildung als Repetitor und Spiritual im Freiburger Theologenkonvikt, mein Einsatz als Hochschulseelsorger in Heidelberg, die fast zwei Jahrzehnte andauernde Mitgliedschaft im Freiburger Metropolitankapitel und die damit verbundene Mitarbeit in der Leitungsebene des Ordinariats, sowie meine Erfahrung als Geistlicher Direktor des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp) in München. – Während der Zeit meiner Mitarbeit in der Priesterausbildung erwarb ich eine Zusatzqualifikation in „Beratender Seelsorge“ („Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie“).
  4. Für all jene, die Unrecht getan haben, indem sie auf Reichtum und Macht setzten und mit Verachtung die „Kleinen“ straften, die dir so am Herzen liegen, bitten wir um Vergebung
  5. Ob sich Menschen mit einer homosexuellen Disposition in der Feststellung „Nicht homosexuelles Empfinden ist missbrauchsbegünstigend, sondern dies zu verdrängen, indem es als sündhaft stigmatisiert wird“ (KE53) wiedererkennen, erscheint mir zweifelhaft.

Beim Wort genommen

Papst Franziskus entlässt Kardinal Marx nicht aus der Verantwortung für sein Bistum München und Freising.

Zweifellos hat der römische Oberhirte das Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx genau gelesen. Er hatte dafür drei Wochen Zeit. Auch die Bekundung – anlässlich der Pressekonferenz am 4. Juni -, in der Reinhard Marx unterstrich, dass er weder amtsmüde noch demotiviert sei, dürfte in das jetzige, überraschend schnell auf den Weg gebrachte Antwortschreiben des Papstes eingeflossen sein.

„Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen.“, so schloss Kardinal Marx sein Demissionsgesuch vom 21. Mai. Nun erreicht ihn der Auftrag, genau dies in seinem angestammten Bistum zu tun.

Durch seinen angebotenen Rücktritt wollte der Münchner Erzbischof ein Zeichen seiner Verantwortung für die Institution und ein System setzen, das er an einem „toten Punkt“ angekommen sieht. Ein ehrenwertes Ansinnen, das in der Politik üblich ist, wenn auch nicht immer befolgt wird. Papst Franziskus betrachtet die Situation allerdings mit anderen Augen und warnt vor den „Ideologen der Reform“, die nicht ihre eigene Existenz riskieren. Er erinnert seinen „Bruder“ in München, sich nicht auf Soziologismen oder Psychologismen zu verlassen oder von der Meinung der Medien abhängig zu machen. Der dem Jesuitenorden angehörende Papst spricht von der dringlichen Aufgabe, die Realität so anzunehmen, wie sie ist, und dabei die (ignatianische) Kraft der Unterscheidung walten zu lassen. In all dem wird nichts schön geredet: die aus den Verbrechen des sexuellen Missbrauchs hervorgegangene Krise nennt Franziskus eine Katastrophe und sieht dabei sich selbst und alle Bischöfe sowie Priester weltweit in der Pflicht, die Konsequenzen am eigenen Leib zu ertragen. Fernab von würdevollen päpstlichen Deklarationen spricht Franziskus unverblümten Klartext, benennt die „Skelette im Schrank“ (gleichbedeutend mit den sprichwörtlichen „Leichen im Keller“). „Wenn man nicht sein eigenes Fleisch auf den Grill legt, nützt das überhaupt nichts“. Solche deftigen Worte können fast nur von einem im Land der Gauchos sozialisierten Menschen kommen, wie überhaupt das ganze päpstliche Schreiben erkennen lässt, dass es unmittelbar aus der Feder von Franziskus stammen muss: es enthält grammatikalische Sonderheiten, die nur das argentinische Spanisch kennt („decís“, „vos“ usw.). Der Brief des Papstes lässt zudem eine ganz besondere Nähe, ja brüderliche Zuneigung, erkennen und scheut sich nicht zu erwähnen, dass der Bischof von Rom seinen Münchner Kollegen mag („hermano tuyo que te quiere“). Hier spricht, so spürt man, ein Geistlicher, der bereits in jungen Jahren eine Jesuitenprovinz geleitet hat und weiß, was es heißt, in seiner Verantwortung auch schwere Fehler begangen zu haben. In der Binnensprache kirchlicher Spiritualität würde man den Text des Papstes mit dem literarischen Format einer „Exhorte“ vergleichen können: empathisch und wertschätzend, zugleich von hohem geistlichen Anspruch und einer mahnenden Erinnerung, einer übernommenen Verantwortung nicht davonzulaufen.

Es könnte sein, dass die spirituell-theologische Hermeneutik des Papstbriefes überlesen oder als frommes Gerede abqualifiziert wird – erste öffentliche Reaktionen lassen darauf schließen. Der eigentliche Adressat freilich dürfte die „correctio fraterna“ aus dem Mund des Papstes sehr wohl verstehen. Und er wird noch mehr als bisher spüren, dass er weiterhin zwischen den Stühlen sitzt: einer Situation, der er durch den Rücktritt vom Amt des Vorsitzenden und dem Angebot des erzbischöflichen Amtsverzichts doch vermutlich entgehen wollte. Einerseits als „starke Stimme der deutschen Reform“ bejubelt, andererseits, in der Loyalität eines Kardinals, der Sichtweise des Papstes verpflichtet, der nicht unbedingt das im Sinn hat, was nördlich der Alpen unter Reform verstanden wird. Jesus, so der Papst, habe die Reform mit seinem Leben, mit seiner Geschichte und mit seiner Hingabe am Kreuz unter Beweis gestellt. „Y este es el camino, el que vos mismo, querido hermano, asumís al presentar la renuncia. – Dies. lieber Bruder, ist der Weg, den Du Dir selbst mit Deinem Angebot des Amtsverzichts zu Eigen gemacht hast.“

Papst Franziskus, der seit Beginn seines Pontifikats immer wieder seine eigene Begrenztheit betont („Soy un pecador“) erinnert Reinhard Marx an die Schlüsselbegegnung zwischen Petrus und Jesus. Ausgerechnet jener Feigling Petrus, der sich vor seinem Herrn als Sünder bekennt („Geh weg von mir!“), erhält den Auftrag „Weide meine Schafe“ (vgl. Lk. 5, 8-10; Joh. 21, 17).

Christoph Klingan, der Münchner Generalvikar, hatte nach der Veröffentlichung des Rücktrittsangebots am 4. Juni das Erzbistum München und Freising zum Gebet für seinen Bischof aufgerufen. Diese Fürbitte ist nun vermutlich noch wichtiger als vor einer Woche.

Wolfgang Sauer
10. Juni 2021

„ … nicht amtsmüde, nicht demotiviert …“

Zum Rücktrittsangebot von Kardinal Marx als Erzbischof von München und Freising

Was am heutigen 4. Juni in der Medienlandschaft wie ein Paukenschlag heftige Resonanzen auslöste, war nach seinem Bekunden bereits in der Fastenzeit und an Ostern zum Entschluss gereift. Am 21. Mai, so Kardinal Marx in seiner Pressekonferenz, habe er Papst Franziskus dann in Rom aufgesucht und ihm die schriftliche Demissionsbitte vorgelesen. Per Mail habe der Papst ihn jetzt wissen lassen, dass das Schreiben veröffentlicht werden könne, Kardinal Marx jedoch bis zu einer endgültigen päpstlichen Entscheidung im Amt bleiben solle.

Mit dem aufsehenerregenden Entschluss des angebotenen Amtsverzichts überraschte der Münchner Oberhirte in relativ kurzem Abstand zum zweiten Mal, nachdem er bereits zuvor (2020) unerwartet den Vorsitz in der Deutschen Bischofskonferenz zur Verfügung gestellt hatte. Den Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter nahm man dem damals 66-Jährigen nicht wirklich ab.

Dass sich jetzt Stimmen zu Wort melden, die Reinhard Marx für seinen aufsehenerregenden Schritt höchsten Respekt bekunden, dürfte in vielerlei Hinsicht gerechtfertigt sein. All das kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der in den engsten Beraterkreis (K9) des Papstes berufene Hoffnungsträger aus München bei weitem nicht all das realisieren konnte, was er sich als Anwalt einer Reform „in capite et membris“ vorgenommen hatte. So gesehen ist die im Münchner Bischofspalais mit Nachdruck vorgetragene Beteuerung „ich bin nicht amtsmüde, nicht demotiviert“ von hinterfragbarer Aussagekraft.

Nicht nur in Rom, sondern auch im Kardinalskollegium der Weltkirche hatte der Münchner Oberhirte nicht nur Freunde, da er zumindest während seiner Amtszeit als Vorsitzender der Bischofskonferenz eine Regionalkirche vertrat, deren synodale Schritte in anderen Ländern mit unverhohlener Skepsis beäugt werden.

Das alles hat, wie der Kardinal es jetzt begründet, sehr wohl mit dem Missbrauchsskandal zu tun, bei weitem aber nicht nur. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, wie divergierend die katholische Kirche in Deutschland ist, dann kann man dies aus den erkennbar dissonanten Reaktionen auf das jetzige Rücktrittsangebot ablesen.

Reinhard Marx betont, dass es sich bei seinem jetzt publizierten Schritt um eine im Gebet geläuterte ganz persönliche Gewissensentscheidung handle. Er spricht dabei von „möglichen“ persönlichen Fehlern, betont aber vor allem seine „institutionelle Verantwortung“ im System. Dabei beklagt er zugleich „dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen“. Selbstverständlich hat er damit bischöfliche Mitbrüder im Blick, allen voran vermutlich den Kardinalskollegen in Köln.

Wenn es freilich seiner Meinung nach so wäre, dass es diese kollektive, gleichsam automatische Mitverantwortung der kirchlichen Amtsträger gibt, müssten – entsprechende Forderungen wurden bereits laut – konsequenterweise viele oder gar alle Ordinarien, seinem Beispiel folgend, ihren Hut nehmen: weil sie allein schon durch die Übernahme der Leitung ihrer Bistümer in die fatale Unheilsgeschichte verwoben sind, die mit den Begriffen Machtmissbrauch, Vertuschung, klerikale Männerbünde und Frauenfeindlichkeit etikettiert wird. Wer im System der katholischen Kirche unter den heutigen Bedingungen eine Leitungsfunktion übernimmt, ist inzwischen auch schon für viele Kirchenmitglieder eo ipso verdächtig und hätte das Amt am besten nie angenommen. Eine derartige radikale Selbstläuterung dürfte die real existierende katholische Kirche in Deutschland in ihrer organisatorischen Verfasstheit schwerlich überleben.

Cui bono? Auch wenn man an der persönlichen Lauterkeit des Entschlusses von Reinhard Marx keinen Zweifel hegen sollte, wird die Frage bestehen bleiben, ob der spektakuläre Schritt des Machtverzichts („vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt … für neue Anfänge“) seine intendierte Wirkung letztlich nicht doch verfehlen wird. Der Beifall des Publikums ist volatil, und der vermutlich größere Teil der bundesdeutschen Gesellschaft wird einer längst verurteilten katholischen „Missbrauchs-Kirche“ keine Träne nachweinen.

Die Kirchengeschichte lehrt indes, dass solche säkularisierenden Entmachtungen auch Chancen beinhalten. Wenn Reinhard Marx in zahlreichen Medien jetzt falsch zitiert wird, dass „die Kirche“ an einem toten Punkt angekommen sei, ist das von ihm de facto gebrauchte „Wir ([haben versagt]“ beileibe nicht mit „der Kirche“ in toto gleichzusetzen. Professioneller Journalismus beherrscht diese Differenzierung.

4. Juni 2021
Msgr. Wolfgang Sauer

„Wenn ich groß bin, werde ich Päpstin“

Mit dieser Plakatinschrift empfängt das Mädchen die Prozession, welche nach Beendigung der heutigen Bischofsweihe am Ausgang des Freiburger Münsters von den „Maria 2.0“-Aktivistinnen gesäumt wird. Mit der klugen Intuition des Kindes – wenn nicht (Gott bewahre!) doch die Mama die Hand ihrer Tochter missbraucht hat – umschifft die Kleine die Crux der Theologie des Weiheamtes, die derzeit im Mittelpunkt der innerkirchlichen Auseinandersetzungen steht. Dass das Papstamt keine Weiheamt ist, sondern „nur“ ein Wahlamt, von dem man – aus welchen Gründen auch immer – zurücktreten kann, hat uns das Jahr 2013 in Erinnerung gerufen. So gesehen hat die von der jungen Demonstrantin plakatierte Ansage des beruflichen Ziels mit Wohnsitz im Vatikan eine vergleichsweise größere Chance als etwa der vieldiskutierte Diakonat der Frau. Und man braucht dazu nicht erst die abstruse Story von der Päpstin Johanna zu bemühen.

Wenn auch in Stufen untergliedert (Diakonat, Presbyterat, Episkopat) handelt es sich im katholischen Verständnis des „ordo“, also der Weihe, um ein unteilbares Sakrament, von dem es keine „Light“-Version geben kann. Auch das Sakrament der Taufe empfängt man nicht nur „ein bisschen“, sondern ganz oder gar nicht. Kluge Theologinnen mit spekulativer Begabung, den männlichen Kollegen ihrer Zunft bisweilen weit überlegen, durchschauen die Mogelpackung eines „Einstiegs-Diakonats“ sofort als mögliches Placebo zur Beruhigung der erhitzten weiblichen Gemüter.

Der „ordo“ taugt jedoch nicht als kirchenpolitischer Kompromiss à la „wenigstens den Diakonat könnte man doch für die Frauen freigeben“. Die innere Logik des Weiheamtes kennt keine strategischen Spielchen, wie man sie zu den Zeiten der 68er noch als „Marsch durch die Institutionen“ konzipiert hatte. Ein – vermeintlich auch „nur“ – im Diakonenamt „geweihter“ Mensch, ob Mann, ob Frau, lebt in der geistlichen Dimension der Berufung zum Dienst, die für alle Weihestufen gleichermaßen gilt und im Wesen unteilbar ist.

Ein Grunddatum biblischer Anthropologie ist die Aussage, dass Gott den Menschen „nach seinem Bild und Gleichnis“ gebildet hat: „als Mann und Frau erschuf er sie“. Daraus leiten das Judentum wie das Christentum die unterschiedslos gleiche Würde von Mann und Frau ab, die in den demokratischen Verfassungen zur fundamentalen Idee der Gleichberechtigung geführt hat. Vor diesem Hintergrund kann man die weltweiten Bewegungen zu Gunsten wirklicher Gleichberechtigung, unter Maßgabe der individuellen Verfasstheit, nicht nur verstehen, sondern man muss sie fördern und fordern.

Dabei bleibt es jedoch bei der schwer lösbaren Frage, ob die religiös begründete Weihe zu jenen Menschenrechten gehört, die jedem menschlichen Wesen a priori eigen sind. Gemäß dem biblischen Verständnis von „Berufung“ dürfte es schwer sein, ein
womöglich sogar verfassungsrechtlich einklagbares „Recht auf Weihe“ darzustellen. Dieser komplexen Problematik haben sich die Kirchen der Reformation dadurch entledigt, dass sie ihre systemische Vorstellung von Ordination nicht in der Sphäre von „Weihe“ angesiedelt haben.
Folgerichtig kennt die reformatorische Tradition Pfarrerinnen und Bischöfinnen, und dies aus protestantischem Amtsverständnis heraus mit Fug und Recht. Von einem „Sakrament göttlichen Rechts“, wie es die katholische Kirche versteht, spricht man im Protestantismus nicht: übrigens eine, wenn nicht sogar die nach wie vor ungelöste ökumenische Herausforderung.

Die differenzierende Einsicht macht eine simple und pragmatische Lösung nach dem Motto „bei den Evangelischen geht’s doch auch!“ schwer. Allerdings: wer solchermaßen behutsam argumentiert, zieht sich allzu schnell den Vorwurf des Machismo zu, der mit Berufung auf überkommene Traditionen doch nur einen unerleuchteten Klerikalismus zelebriert. Der Verweis darauf, dass es in der katholischen Tradition hochbegabte, hochgeachtete und weit über ihre Zeit hinaus wirkmächtige Frauen waren, die der Kirchenwirklichkeit den Stempel aufdrückten (Teresa von Ávila, Katharina von Siena, Hildegard von Bingen, Edith Stein und viele andere), wird im entsprechenden Diskurs schnell als Ablenkungsmanöver abgetan.

Die derzeitigen unter dem Signet „Maria 2.0“ vorgetragenen Forderungen betreffen meist die Weihe der Frau im gemeinsamen Katalog mit der Abschaffung des Zölibats. Auf den ersten Blick macht diese Lösung im Bundle durchaus Sinn: man kann durchaus Verständnis dafür haben, dass eine zur Priesterin geweihte Frau nur wegen ihres Berufs nicht auf Ehe und Familie, also auf ein Leben mit sexueller Intimität verzichten will.

Allein: es gilt festzuhalten, dass „Zölibat“ und „Weihe“ zwei weit auseinander liegende theologischen Qualitäten besitzen. Der Zölibat ist ein einfaches Kirchengesetz, zu einer bestimmten historischen Stunde (4. Laterankonzil) für den lateinischen Klerus verpflichtend gemacht und deswegen zumindest „theoretisch“ jederzeit revidierbar. Der „ordo“, die Weihe, rangiert indes in einer völlig anderen theologischen Kategorie, wird in der katholischen Kirche mit dem „ius divinum“, dem göttlichen Recht unter dem Stifterwillen Jesu Christi in Verbindung gesehen. Man kann dies natürlich leugnen oder für Nonsens halten, trifft dadurch zumindest unbewusst auch schon persönliche Entscheidungen, die ein unbeschwertes Leben in der Glaubensgemeinschaft der katholischen Kirche auf Dauer mühsam machen dürften.

Wenn Frauengruppen sich derzeit in einen „eucharistischen Hungerstreik“ begeben oder sich (wie jüngst geschehen) – zeitlich parallel zu dem im Kirchengebäude vom Priester gefeierten Gottesdienst – unter freiem Himmel in „Fladenbrot mit Prosecco“ eucharistisch begegnen, wird kein Blitz vom Himmel sie daran hindern. In den Anden Lateinamerikas, fernab von Rom, werden solche Versammlungen ungeniert als „misa negra“, schwarze Messen, deklariert und praktiziert. Wir leben in einer permissiven Gesellschaft: alles ist erlaubt.

Es ist kein Geheimnis, dass sich die katholischen Bischöfe in Deutschland in dieser und anderen Fragen uneins sind wie selten zuvor. Ein erst vor kurzem in sein Amt eingeführter Bischof spricht unverblümt und – offenbar seinem eben erst geleisteten Treueeid schon wieder entfremdet – ungehindert davon, dass (etwa im Kontext pädophiler Verbrechen) das unselige Phänomen des Machtmissbrauchs „zur DNA der Kirche [sic!]“ gehöre. Wie besagter Oberhirte sich einem nach seinem Urteil evident korrupten und und unheilbaren, weil „genetisch“ defekten Apparat dennoch als Bischof zur Verfügung stellen kann, bleibt sein Geheimnis. Rational ist eine solche mentale Dissonanz nicht zu erklären.

Es bleibt die Frage, ob man dem mit seinem Plakat protestierenden Mädchen wirklich dazu raten soll, ihren hehren Berufswunsch „Päpstin“ konsequent weiter zu verfolgen. Der Job ist nicht leicht – aber immerhin kann man aus ihm auch wieder zurücktreten. Mit dem „character indelebilis“ der Weihe geht das nicht.

Freiburg, 30. Juni 2019
Wolfgang Sauer

Am Abgrund eines Schismas?

“… hancque sententiam ab omnibus Ecclesiae fidelibus esse definitive tenendam.”

Mit dieser Formulierung, die Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ vom 22. Mai 1994 gebraucht hat, setzte er einen „definitiven“ Schlussstrich unter die Diskussion der Frauenordination in der katholischen Kirche. Sein Schreiben hat zwar nicht den Charakter eines unfehlbaren Dogmas, bindet jedoch durch das Format des „allgemeinen Lehramts“, für das sich der Papst in der anstehenden Frage das einstimmige Votum der Bischofskonferenzen eingeholt hatte. Der jetzige Papst bezieht sich ausdrücklich auf die Entscheidung seines Vor-Vorgängers.

Schon damals, mit besonderer Empörung jedoch in unseren Tagen, weigern sich unter dem Vorzeichen der Aktion „Maria 2.0“ zahlreiche Mitglieder der katholischen Kirche in unserem Land, diese „endgültige“ Festlegung anzuerkennen. Nicht zuletzt bedingt durch den massiven Vertrauensverlust, den die Kirche durch die Missbrauchsskandale hat hinnehmen müssen, erscheint die Priesterweihe von Frauen und eine gleichzeitige Abschaffung des Junktims „Weihe-Zölibat“ als Rettungsanker einer gleichsam von Gott und der Welt verlassenen Kirche.

Die nüchterne Logik des Konflikts zeigt, dass offenkundig ein „point of no return“ erreicht ist. Die zahlreichen Befürworter einer Kirchenreform werden sich, in Ablehnung jenes päpstlichen „Diktats“, weder intellektuell noch emotional von einem Kurs abbringen lassen, der geradezu zwangsläufig in einem Schisma enden wird. Der einwöchige Streik gegen eine männerdominierte Kirche, der unter anderem darin besteht, keine Kirche zu betreten, dürfte in naheliegender Konsequenz bei nicht wenigen dazu führen, aus der römisch-katholischen Kirche ganz auszutreten. Erleben wir angesichts des theologisch und praktisch nicht lösbaren Konflikts die Ausgründung einer „neukatholischen“ Kirche, in der dann die Reformforderungen umgesetzt werden?

Verständigungslinien sind nicht erkennbar. Die Reduzierung der Frauenordination auf einen Diakonat der Frau lässt sich angesichts der theologischen Definition des Weiheamtes schwerlich begründen, würde einen faulen Kompromiss darstellen.

Am 12. Mai 2019 wurden im Freiburger Münster sechs Männer zu Priestern geweiht. Im Unterschied zu früheren vergleichbaren Anlässen wurde nach der Weiheliturgie die feierliche Prozession der Neugeweihten nicht vom freudigen Applaus des Volkes Gottes begleitet, sondern von einer mehrhundertfachen Phalanx der Protestbewegung „Maria 2.0“ gesäumt, die in ständiger Wiederholung den „Wenn einer alleine träumt …“-Kanon auf Basis des Zitats von Dom Helder Camara zu Gehör brachte. „Habt keine Angst vor den Frauen!“ war auf einem Plakat zu lesen. Hat die „Männerkirche“ Angst vor den Frauen?

Der einwöchige Kirchenstreik bezieht sich auch auf die sonntägliche Eucharistiefeier – alternative Wortgottesdienste außerhalb der Kirchenräume werden gefeiert. So wird die Aktion gewissermaßen auch zum Eucharistiestreik: einzelne Mitfeiernde der Freiburger Weiheliturgie traten zwar zu den Orten, an denen die Kommunion ausgeteilt wurde, lehnten dort aber den Empfang der Hostie ab. Wird das Sakrament der Einheit als vermeintliches Machtinstrument des männlichen Klerus interpretiert?

Solche Szenarien zeigen an, wie tief die Gräben, wie hochemotional die Verwerfungen sind. Mag sein, dass manche in persönlicher Inkonsequenz vor einem letzten Schritt des Bruches zurückschrecken, verbunden mit einem weiteren Rückzug in die verbitterte Resignation. Andere aber, die sich schon sehr weit vorgewagt haben, werden zur Vermeidung des Gesichtsverlustes und in Wahrung ihrer Selbstachtung zu neuen Ufern aufbrechen.

Einer der Neugeweihten stammt aus Togo und repräsentierte – zusammen mit anderen Gottesdienstteilnehmern aus Afrika, Asien und Lateinamerika – jenen Reichtum weltkirchlicher Vielfalt und Einheit, um die andere Konfessionen die römisch-katholische Kirche ob dieses hohen, unschätzbaren Gutes beneiden.

Es wäre in der Kirchengeschichte nicht das erste Mal, das Christen nördlich der Alpen auf diese Einheit verzichten und eigene Wege gehen.

Wolfgang Sauer
13. Mai 2019

Patriotismus

Wenn sich einmal die Nebel des Schocks und der Schuldzuweisungen gelichtet haben werden, mag deutlicher hervortreten, dass angesichts z.T. diametraler Gegensätze der politischen Optionen die gewählte Vorgehensweise für die Sondierungsgespräche von Anfang an nicht zielführend sein konnte. Um die mit dem Kürzel „Jamaica“ belegte Quadratur des Kreises anzugehen, bedurfte es nicht hundertköpfiger Delegationen, sondern einer anfänglichen Grundsatzklärung auf höchster Ebene und im kleinen Kreis. Die Letztverantwortlichkeit für die dann trotzdem favorisierte Methode ist bekannt.

Das Wahlvolk wünschte sich nach dem Resultat des 24. September – umfragebelegt! – eine handlungsfähige Regierung. Über die Tatsache, dass die Nation in wesentlichen Fragen mittlerweile bis zur Zerreißprobe gespalten ist, machte man sich wenig Gedanken. Vor dem Hintergrund der von Woche zu Woche steigenden Erwartungen, dass die Sondierungen doch endlich das Wunder vollbringen würden, flüchteten sich manche Protagonisten – hoch lebe die Verhandlungsdiskretion! – bis zuletzt in allerlei kühne öffentliche Behauptungen, man stehe schon ganz nahe vor dem erfolgreichen Abschluss der Sondierungen. Irgendwann wird – investigativ – ans Licht kommen, was in den Wochen nach der Wahl wirklich geschah, und ob etwa der Schwarze Peter der geplatzten Einigung tatsächlich ausschließlich bei den Freien Demokraten zu suchen ist. Lindners Formulierung „Besser nicht regieren als falsch regieren“ könnte ja auch so interpretiert werden, dass er einer auf „Falschheit“ (im Sinn von Misstrauen und politischer Lebenslüge) beruhenden Koalition keine Chance gab. Er benutzte den Begriff „falsch regieren“ und nicht etwa „schlecht regieren“.

Die geradezu obsessiv wiederholte Interpretation des letzten Wahlausgangs, der – in der Schulz’schen Diktion – eine „krachende Niederlage“ und somit definitive Abwahl der Großen Koalition offenbart hätte, gehört in die Kategorie des tumben Trotzes. Die älteste demokratische Partei auf deutschem Boden sollte sich (auch personell, 100% hin oder her!) neu aufstellen und sich auf die Millionen von Stimmen besinnen, die ihr bestimmt nicht zum Schmollen in der Opposition anvertraut wurden. Wer eine Auszeit und Heilkur braucht, möge sie sich gönnen, aber bitte nicht seine Partei in Geiselhaft nehmen.

Es wurde behauptet, man sei geradezu „patriotisch“ bis an die Schmerzgrenze der Kompromissbereitschaft gegangen – und darüber hinaus! Dieser – gehen wir einmal von der positiven Annahme aus – ehrlich gemeinten Bereitschaft stehen zwei hohe Hürden im Weg: zum einen der Wille zur Regierungsmacht, die neben dem Prestigezuwachs ja auch lukrative Implikationen mit sich bringt, und zum anderen das geradezu magische Starren auf den Willen der so genannten Basis. Hier scheint sich ein Grundproblem in der demokratischen Entwicklung anzudeuten, das uns im großen Stil auch von Trump vorgemacht wird. Sind unsere Politiker wirklich nur gewählt, um ihre Wahlklientel zu befriedigen und nach Manier des Musterschülers hinter sämtliche Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme artig ihre Häkchen zu setzen? Ein imperatives Mandat ist im bundesdeutschen Parlamentarismus ausdrücklich nicht vorhersehen.

Natürlich braucht jede Partei ihr genuines Profil. Sie braucht aber auch jenes Vertrauen ihrer Wählerinnen und Wähler, dass sie sich in der jeweils geforderten Situation – um einer höheren oder fortgeschrittenen Einsicht willen – vom bedruckten Papier trennen darf – und muss! Der Charme der Demokratie besteht darin, dass die Wählerinnen und Wähler in regelmäßigen Abstanden darüber befinden können, ob die unter Beweis gestellte politische Kunst für ein erneuertes Mandat ausreichend genug war oder eben nicht. Demokratie besteht nicht darin, immer neu die Fleißbildchen der Basis abzuholen und alles zu vermeiden, was die Zustimmungsrate negativ beeinflussen könnte. Vor der letzten Legislaturperiode versprach Merkel, dass es mit ihr nie und nimmer eine PKW-Maut geben würde. Bei der jetzigen Bundestagswahl haben die Wählerinnen und Wähler ihre Chance der Bewertung genutzt.

Mit Recht betonen Steinmeier und Schäuble, dass Parteiräson nicht das oberste Prinzip demokratischer Verantwortung sein dürfe. Sich dieser Aufforderung und Einsicht zu öffnen, benötigt freilich Demut und wirklichen Patriotismus.

Wenn nach den Aussagen des Grundgesetzes den politischen Parteien ein Beitrag zur Willensbildung des Volkes zuerkannt wird, könnte diese Willensbildung in einer Situation wie der jetzt eingetretenen auch darin bestehen, einer ideologisch gespaltenen Nation dabei zu helfen, sich vornehmlich auf das Gemeinsame zu konzentrieren und nicht immer neu mit dem Trennenden hausieren zu gehen. Deutschland ist keine Insel der Seligen, und seine Demokratie ist noch jung: sie darf sich ausprobieren. Aber so unangefochten stabil ist sie nicht, um nicht plötzlich doch vor einem Desaster zu stehen. Nimm nur einmal die wirtschaftliche Prosperität weg, und Du wirst sehen, ob und wie weit das Prinzip Demokratie in den Köpfen und Herzen verankert ist.

Die jüngere Geschichte lehrt, in welche Richtung ein irritiertes Staatsvolk rücken kann.

„Es ist erst der Anfang …“

Nachlese zum Katholischen Medienkongress 2017

Was war mit dem Thema konnotiert? „Hallo, jetzt starten wir durch!“? Oder „Wir können noch ganz anders!“ Oder „Ihr werdet schon sehen, wo das endet!“?

Dass die biblischen Berge der Gottesoffenbarung von einem Tal namens Silicon Valley abgelöst worden zu sein scheinen, darauf wies Christiane Florin in ihrer geistreichen Schlussmoderation mit Timotheus Höttkes (Vorstandsvorsitzender Deutsche Telekom)  und Reinhard Kardinal Marx (Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) hin.

Die zahlreichen Panels des Kongresses oszillierten zwischen der Sorge oder gar Angst vor der neuen Technologie mit ihren zweifellos ungeahnten und faszinierenden Möglichkeiten, und andererseits dem Enthusiasmus angesichts einer weltweiten digitalen Vernetzung, die gleichsam ein neues Zeitalter eingeläutet hätte, sozusagen eine nachgeholte mediale Jahrtausendwende. Und in all dem natürlich die Frage: wo steht die Kirche, hat sie etwas zu sagen, oder gehört sie (einmal mehr?) zu den ewig gestrigen Fortschrittsverweigerern?

Es war dem früheren Verfassungsrichter Paul Kirchhof vorbehalten, Jubel und Klage rechtsphilosophisch, aber vor allem kommunikationstheoretisch zu erörtern und die Chancen und Risiken der Digitalisierung kenntnisreich zu sondieren. Ein Beitrag, der im Nachgang des Kongresses vielleicht einmal als das Highlight der Veranstaltung gewertet werden dürfte. Die Einwände aus dem Auditorium, er habe zu viel von den Risiken und zu wenig von den Chancen gesprochen bzw. die Warte des professoralen Juristen zu einer prädominanten Skepsis benutzt, gingen in die Leere.

Es war und ist höchste Zeit, die anonymen Mechanismen der Digitalisierung zu analysieren und zu benennen: und zwar um der Freiheit und Würde des Menschen willen, die nicht von mit Algorithmen aufgeladenen Robotern ausgehebelt werden dürfen. Dies hat nicht mit Fortschritts- und Technikfeindlichkeit zu tun, sondern mit einer tiefergehenden Nachdenklichkeit, die sich nicht von einer kurzsichtigen Euphorie des Neuen blenden lässt. Schon Thomas von Aquin weist darauf hin, dass ein kleiner Denk- oder Einschätzungsfehler am Beginn eines Prozesses schlussendlich in einer großen Sackgasse enden könnte „Quia parvulus error in principio magnus erit in fine“.

Die zweifellos gigantischen Möglichkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, und von denen wir alle in hohem Maß und vielfältig profitieren, sollten dennoch nicht blind machen für die geheim gehaltenen ökonomischen Interessen, die bei den Großkonzernen der Digitalisierung verfolgt werden. Ethos, Chancengleichheit, Bildungsgerechtigkeit, informationelle Selbstbestimmung und individuelle Freiheit bleiben auf der Strecke, wenn sich international agierende Player geschickt jeder gesetzlichen und ökonomischen Kontrolle entziehen und ihr Janusgesicht hinter dem lächelnden Plakat des grenzenlosen Fortschritts verbergen. Übrigens: dieselben Menschen, die wegen Vorratsdatenspeicherung auf die Barrikaden gehen, überlassen selbst intime Informationen bedenkenlos jenen, die mit „sophisticated“ ausgedachten Programmierungen das Nutzerverhalten manipulativ konditionieren. Naiver Pragmatismus ist fehl am Platz.

Nicht einen Appell, sondern einen Handlungsauftragt schrieb Kirchhof den Kirchen ins Stammbuch. Die visionären Persönlichkeiten, die einst im Zeitalter der Massenindustrialisierung einen analytischen Blick für Ausbeutung und Marginalisierung der Arbeiterschaft entwickelten und in Wort und Tat gegensteuerten, scheinen heute keine adäquaten Nachfolger zu haben.

Wir erinnern uns an die Arbeiterpriester, etwa des Prado in Lyon. Braucht es heute Digitalpriester? Die Herausforderung ist zu groß, als dass man sie klerikalisieren dürfte. Das Zweite Vatikanische Konzil hat andere Rollenzuweisungen vorgenommen. Es wäre freilich kein Fehler, wenn auch Verantwortungsträger in den Kirchen noch kompetenter verstehen lernten, was mit dem Begriff Digitalisierung gemeint ist – und was sich dahinter verbirgt.

Bonn/München
17.10.2017

Ein entschiedenes Jein

Mit der parlamentarischen Mehrheit des Deutschen Bundestages ist die Ehe für Paare gleichen Geschlechts gesellschaftlich sanktionierte Realität geworden. Die Entscheidung wird als Sternstunde der Demokratie gehandelt: „Niemandem wird etwas weggenommen, und viele bekommen etwas geschenkt!“ Man wünscht auch der Steuergesetzgebung solche Erfolge.

Gewissensentscheidungen, in namentlicher Identität, werden üblicherweise mit dem Respekt der Diskretion bedacht. Die variantenreiche Geschäftsordnung des Parlaments hat es ermöglicht, das Abstimmungsverhalten der Parlamentarierinnen und Parlamentarier am Bildschirm ad personam zu identifizieren. Das Bild von Angela Merkel, mit dem roten Stimmchip an der Urne, wird man in der bevorstehenden heißen Phase des Wahlkampfes zur Genüge plakatiert erleben. Es steht zu vermuten, dass die Attraktion einer „Kanzlerin neben dem Papst“ geringere Wirkung zeigt.

Die der Abstimmung vorausgehende Debatte war von Ernsthaftigkeit und gegenseitigem Respekt gekennzeichnet – gemäß der Vorgabe des scheidenden Präsidenten. Verbale Fehlgriffe wie das peinliche Bild von der Sturzgeburt oder dem schäbigen Schabowski-Vergleich waren die Ausnahme. Es war jedoch von vorneherein klar, dass die vorgetragenen Argumente keine Meinungsänderung mehr herbeiführen würden. Die dem Wahlkampf geschuldete Instrumentalisierung des Themas war prädominant. Die Konfetti-Bombe lag längst bereit, auch die regenbogen-farbene Hochzeitstorte („Ehe für alle!“) wartete darauf, endlich angeschnitten zu werden. Ein letztes Mal gelang es dem Bundestagspräsidenten, exzessives, dem hohen Hause unwürdiges und „albernes“ Verhalten zu disziplinieren. Aber die Gesellschaft und die Demokratie entwickeln sich weiter, ebenso wie die zeitgeistbezogene – in juristischer Hermeneutik „dem gesellschaftlichen Wandel geschuldete“ – Interpretation des Grundgesetzes. Bei der nächsten Wahl eines Bundespräsidenten könnten Luftballons zu den Blumengebinden dazukommen.

Sozusagen termingerecht ist das Theologoumenon von der „Ehe als einem weltlichen Ding“ im Bürgerlichen Gesetzbuch angekommen und zum nicht länger hinterfragten Prinzip liebender Gemeinschaft geworden: ein längst fälliges Stück Normalität in einer liberalen und permissiven Gesellschaft. Nicht wenige werden erleichtert sein, dass die Ewig-Gestrigen mit ihren abstrusen Moralvorstellungen und verschrobenen Sittengemälden endgültig abzudanken haben: die letzte Bastion der unseligen Diskriminierungen ist gefallen. Das Grundgesetz, ja sogar die Nationalhymne!, seien in ihrem eigentlichen Wesen angekommen: Einigkeit und Recht und Freiheit! Der Titel „Amoris laetitia“ könnte – von seinem Autor nicht unbedingt intendiert – zum Wahlkampfsmotto werden und auch die letzten Realitätsverweigerer überzeugen.

Apropos: wie schon in früheren Fällen dürfen wir den Erkenntniszuwachs der Kanzlerin konstatieren, die ihre dereinst noch gewissensbegründete Zurückhaltung beim Thema „Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare“ aufgegeben hat. Dies war – man erinnere sich – der noch verbliebene Unterschied zwischen der eingetragenen Lebenspartnerschaft gleichgeschlechtlicher Partnerinnen oder Partner und der ehedem heterosexuellen Paaren vorbehaltenen Ehe. Warum die zur erweiterten Erkenntnis gelangte Regierungschefin dennoch mit „rot“, also nicht „rot-rot-grün“, stimmte, mag ihr persönliches Geheimnis bleiben. Wäre es aus Taktik gegenüber dem konservativen Lager geschehen, könnte man sich durchaus überzeugendere Strategien vorstellen. Geschah es mit einem emotionalen Respekt vor dem Grundgesetz, war dies achtbar und doch politisch wenig konsequent. Eben ein entschiedenes Jein.

Eine international aufgestellte Glaubensgemeinschaft wird nationale Entscheidungen respektieren, auch entsprechend in Relation stellen. Sie wird, der weisen Einsicht ihrer Päpste folgend, auch weiterhin den Menschen als den Weg der Kirche in den Mittelpunkt stellen, an die Ränder gehen und in der Mitte ihres Credos bleiben. Dass „Ehe“ hierzulande ein analoger Begriff geworden ist, braucht sie nicht stören. Sie wird, ihrer Sendung entsprechend, den „weltlichen Dingen“ Gottes Segen zusprechen.

Daran werden Sternstunden nichts ändern: on est là pour tous!

O si tacuisses

Angela Merkel wird noch lange an den Abend des 26. Juni 2017 denken, als sie im Brigitte-Talk über die „Ehe für alle“ befragt wurde. Wer sich die bedächtige und zugleich verschwurbelte Antwort mit ihrer – diplomatisch ausgedrückt – wenig eleganten Rhetorik wiederholt anschaut und anhört, muss zu der Einsicht gelangen, dass sich die Kanzlerin unfreiwillig auf ein mehr als gefährliches Pflaster mit folgenreicher Schieflage begeben hat. Dass sie sich hernach „befremdet“ über die Reaktionen im Lager der parteipolitischen Gegner äußert, ist das hilflose Zurückrudern angesichts einer – so steht zu vermuten – völlig unbeabsichtigten parlamentarischen Wirkungsgeschichte. Merkel positionierte das Anliegen eher grundsätzlich in den Kontext des einzelnen Gewissens und dachte dabei wohl kaum an eine zeitnahe Bundestagsabstimmung unter Aufhebung der Fraktionsdisziplin (ohne die sonst üblichen vorausgehenden Probeabstimmungen). Das Entsetzen in den eigenen Reihen ist groß: die „Chefin“ hat eine Panne produziert. Auch wenn die Kanzlerin die Nation schon wiederholt mit atemberaubenden Kehrtwendungen ihrer politischen Position konfrontiert hat, darf im konkreten Fall doch davon ausgegangen werden, dass das jetzt eingetrete Debakel nicht wirklich von ihr intendiert war.

Es ehrt den Menschen Angela Merkel, dass sie es sich bei ihrem Statement nicht einfach gemacht hat. Sie rang nach Worten, um niemanden unnötig zu verletzen und sich selbst als eine nachdenkliche und behutsam reflektierende Person dazustellen. Man hätte sich gewünscht, dass sie sich genau so auch in anderen Kontexten politischer Entscheidung verhalten hätte. Schwer erträglich ist freilich die auf Nachfrage wiederholt von ihr vorgetragene Argumentation, dass es für sie nachvollziehbar sei, wenn etwa ein Jugendamt Kinder in die Obhut eines lesbischen Paares gäbe, statt sie in einer „normalen“ Familie zu belassen, in der Streitereien und häusliche Gewalt an der Tagesordnung seien. Eine solche Argumentationsfigur ist – wenn man es scharf formulieren will – perfide, auch wenn sie im öffentlichen Diskurs gang und gäbe geworden ist: „besser ein sauberer Amateur als ein gedopter Leistungssportler!“ Als ob – um zum konkreten Beispiel zurückzukommen – nicht in zahllosen „klassischen“, also heterosexuellen, Ehen tadellose Erziehungsarbeit geleistet würde. Mit anderen Worten: wenn ein respektabler Einzelfall zum Maßstab und Vorbild der Mehrheit gekürt wird, hinkt die Argumentation, und zwar ganz gewaltig. Aber eben dieses – pardon! – Herumgeeiere der Kanzlerin hat die sich jetzt neu anbahnende parlamentarische Mehrheit jenseits der derzeitigen Koalition durchaus schadenfroh als Steilvorlage aufgegriffen. Ein Eigentor der Kanzlerin. Dass es unbeabsichtigt war, gehört zum Wesen eines Eigentors.

Neben der politischen Dimension des Vorgangs, der durchaus auch die Frage nach tatsächlicher Trittfestigkeit und Qualifikation der Kandidatin stellt, sei aus der Sicht eines christlichen Staatsbürgers an den Hinweis von Kardinal Marx als dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz erinnert, der es bedauert, „wenn der Ehebegriff aufgelöst werden soll und damit die christliche Auffassung von Ehe und das staatliche Konzept weiter auseinandergehen“. Dieser schleichende Prozess der Säkularisierung und Entzweiung der Zivilgesellschaft, der sich trotz aller juristischen Rabulistik immer weiter vom Geist des Grundgesetzes entfernt, macht es im Blick auf die anstehende Bundestagswahl schwer, dort ein Kreuzchen zu setzen, wo eine höchstmögliche Konvergenz zwischen persönlicher Überzeugung und politischer Programmatik gegeben ist. Wenn die demokratischen Parteien zur „Willensbildung“ des Volkes beitragen sollen, stellt sich die je persönliche Frage, ob sich im Angebot eine Partei findet, die den eigenen Willen wirklich „bildet“ und profiliert, und der man folglich ein politisches Mandat anvertrauen will.

Stimmenthaltung in der Wahlkabine wäre in diesem Fall kein Zeichen von Politikverdrossenheit, sondern ein demokratisch legitimer Aufstand des Gewissens. Nichts Neues unter germanischer Sonne.

Der „leider-nicht“-Kandidat

An diesem 12. Februar 2017 hat die Bundesversammlung Dr. Frank-Walter Steinmeier zum 12. Bundespräsidenten gewählt. Die klare Mehrheit (74,3%) – mit letztlich doch überraschend zahlreichen Enthaltungen – war abzusehen, und am Ergebnis der Wahl gibt es nichts zu mäkeln. Seine „Habt Mut!“-Rede nach seiner Wahl ist Steinmeiers Signal für die ganze Nation.

Wesentlich mehr als dieses erste Statement des neuen Bundespräsidenten hat mich freilich die Ansprache fasziniert, die Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert zur Eröffnung der Bundesversammlung gehalten hat. Wer zudem seine Rede vom 3. Oktober 2016 in der Dresdner Semperoper in Erinnerung hat, empfindet vielleicht wie ich eine gewisse Enttäuschung darüber, warum dieser hochverdiente Politiker, exzellente Redner und souveräne Manager des deutschen Parlaments (und damit auch der Interessen unseres Landes) nicht als Kandidat angetreten ist oder schließlich doch noch zur Kandidatur überredet werden konnte (Andeutungen von Unionspolitikern lassen erkennen, dass dies bei ressentimentfreier Vorgehensweise durchaus möglich gewesen wäre). Seit geraumer Zeit fühle ich mich bei Lammerts Reden an Richard von Weizsäcker erinnert, z.B. an dessen historische Rede vom 8. Mai 1985. Es ist tröstlich zu wissen, dass unsere Demokratie über solche Koryphäen verfügt – und umso bedauerlicher scheint mir die Tatsache, das der protokollarisch zweite Mann im Staat nicht zum ersten geworden ist.

Die historisch kenntnisreiche Darstellung von Zusammenhängen und das feinsinnig-elegante Plädoyer für die Vorteile der repräsentativen Demokratie – auch bei der Wahl des Staatsoberhauptes – waren eine politische Lehrstunde und ein weiteres Beispiel staatsmännischer Weitsicht. Die Tatsache, dass er während seiner Rede von einzelnen Gruppierungen der Bundesversammlung keinen Applaus erhielt, vergrößert das ohnehin schon großformatige Ansehen des amtierenden Bundestagspräsidenten mit dem nicht korrumpierbaren Mut zur klaren Kante. Auch seine Antwort im ARD-Interview, während des laufenden Wahlgangs auf das Faktum der Nichtzustimmung einzelner Mitglieder der Bundesversammlung angesprochen, war die eines überzeugten Demokraten, der die Spielregeln dieser Staatsform kennt und verteidigt.

Die in diplomatischer Rhetorik verpackten Signale an alle Populisten jenseits und diesseits des Atlantik sollten denen in den Ohren klingen, die damit gemeint waren. Wenn Norbert Lammert zu Ende dieser Legislaturperiode auf ein weiteres Mandat verzichtet, wird unserem Parlament eine große Persönlichkeit fehlen.

Ohne meine staatsbürgerliche Loyalität gegenüber dem künftigen Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier in Abrede zu stellen, bleibt mir nach der heutigen Bundesversammlung ein „Schade!“ im Hals stecken. Unter den großen Politikern seiner Generation (Jahrgang 1948) ist Dr. Norbert Lammert einer von den ganz Großen. Unser Land hätte ihn noch – dringend! – gebraucht!

 

Have mercy on us!

Gedanken zur Inaugural Speech vom 20. Januar 2017

Viele – zu denen auch ich mich zählte – hatten gehofft, dass der President Elect mit dem Augenblick seiner Vereidigung seinen egomanen Wahlkampfmodus endlich beenden würde. In Anwesenheit seiner Amtsvorgänger und der politischen Elite des Landes sollte durch die Würde des übernommenen Amtes und unter dem Versprechen der Versöhnung einer gespaltenen Nation ein neuer Anfang gesetzt werden.

Alle, die solches erwarteten, wurden eines Schlechteren belehrt. Der auf gleich zwei Bibeln, der einst von Abraham Lincoln benutzten und einer Familienbibel, geschworene Eid geriet im theatralischen Bibelpack fast schon zur Blasphemie. „The Bible tells us how good and pleasant it is when God’s people live together in unity“ – die Eingrenzung des Begriffs „Gottes Volk” auf eine einzelne Nation ist ein Sakrileg.

Die brutale, feindselig-zynische Abrechnung mit der „small group in our nation‘s capital“ raubte der Zeremonie jene Erhabenheit, die man von früheren Amtseinführungen kannte und auch bewunderte. Hier versuchte einer, sich in quasi-messianischem Furor zum Heilsbringer einer Zeitenwende zu stilisieren. Wer in die versteinerten Gesichter von Hillary Clinton und vor allem von Barack Obama schaute, empfand nicht nur Mitleid, sondern Abscheu vor dieser aggressiv inszenierten und geschichtsvergessenen Abkanzelung. – Was mögen die Obamas im Hubschrauber gesprochen haben, der sie vom Ort des Schreckens in den Urlaub transportierte?!

„America first“. Gemeint ist offenkundig, in einer geographischen Selbstbornierung, ein nur auf die USA reduzierter Doppelkontinent. Einmal neu wird der lateinamerikanische Süden ausgeblendet, eben jener seit Beginn des 20. Jahrhunderts so geschmähte „Hinterhof der USA“. Wenn der neue Präsident der USA den mit großformatiger Historie gefüllten Begriff „Amerika“ mit seinem Land gleichsetzt, ist das pure Arroganz der Macht, wenn nicht gar Rassismus. Dies ist nicht das wahre Gesicht der verdienstvollen Nation der Vereinigten Staaten!

Der Atem musste dem theologisch interessierten Zuhörer bei folgenden Worten stocken: „We will be protected by the great men and women of our military and law enforcement and, most importantly, we will be protected by God.” Wieder einmal beruft sich einer auf den Schutz Gottes (in anderem Zusammenhang hieß das einmal „die Vorsehung”), in einem (!) Atemzug genannt mit Militär und Polizei. Auch wenn man mit der weisen Milde des „alten Kontinents Europa“ manche skurrilen Auswüchse nordamerikanischer Frömmigkeit akzeptiert, ist diese Vereinnahmung Gottes vor dem Hintergrund einer aufgeklärten, demokratisch entwickelten und gebildeten, Nation doch singulär. Solchen religiösen Fundamentalismus kannte man bisher nur von selbsternannten oder ins Amt geputschten Despoten dieser Welt. Wo ist hier – fragt man bedrückt – der essentielle Unterschied zu jenem vereinnahmenden „Alahu Akbar“, das wir aus dunkelsten Kontexten kennen?

Wer das Interview mit dem deutschen Vizekanzler und Wirtschaftsminister gesehen hat, das dieser im Eindruck der eben erst gehaltenen Rede des neuen US-Präsidenten gab, musste hinter den – vermutlich unter Aufbietung äußerster diplomatischer Rücksichtnahme gegebenen – Antworten das blanke Entsetzen wahrnehmen.

„In God we trust“, heißt es in der us-amerikanischen Nationalhymne, die von der 16-jährigen Jackie Ivancho hingebungsvoll-bravourös vorgetragen wurde – vermutlich die schönste Szene der Inauguration. Ihren Entschluss, bei der Amtseinführung zu singen, begründete Evancho in einem Interview, sie würde es aus Patriotismus tun, „für mein Land“.

Im konkreten Kontext provoziert das Bittgebet „God bless America“ jetzt einen globalen Klageruf „Lord, have mercy on us!“

München, 21.01.2017